Kapitel 4

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Ich krampfte die Finger zusammen, als ich einige Zeit später an Mr Sandrian herantrat, um ihm meine Entscheidung mitzuteilen. Ich hatte einen günstigen Zeitpunkt abgepasst, als kein Patient auf eine Behandlung wartete und räusperte mich leise, um den Arzt in seiner Arbeit zu unterbrechen. Er saß an seinem Schreibtisch und schaute eine Akte durch.

Langsam hob er den Kopf und schaute mich auffordernd an, um mir zu signalisieren, dass er mir zu hörte.

„Ich habe beschlossen, zu bleiben. Ich werde nicht aufgeben, nicht so schnell." Er nickte und wandte sich wieder seinen Papieren zu. „Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben. Wir sehen uns heute Abend."

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Wie konnte er mich einfach so abservieren? Wütend funkelte ich ihn an. „Haben Sie noch eine Frage, Miss Silver?", fragte Mr Sandrian mich genervt. „Nein, Sir." „Dann würde ich vorschlagen, dass Sie an die Arbeit gehen, bevor Sie hier noch Wurzeln schlagen."

Ich biss die Zähne zusammen, um mir einen gehässigen Kommentar zu verkneifen. Den würde ich hinterher nur bereuen. Stattdessen begnügte ich mich mit dem befriedigenden Gedanken, dass ich es ihm schon zeigen würde.

Ich knickste zum Abschied und verließ den Behandlungsraum. Da gerade kein Patient zugegen war, würde ich warten müssen. Also setzte ich mich auf einen der Stühle, der furchtbar unbequem war.

Seufzend strich ich mir meinen Rock glatt und betrachtete ein Gemälde mir gegenüber. Es zeigte eine raue See. Sehnsucht überkam mich. Meine Familie stammte aus Cornwall und wir lebten direkt am Meer. Als Kinder hatten Ian, Rose und ich fast jede freie Minute am Strand verbracht und hatten heimlich Bogen schießen geübt. Niemand wusste davon, denn unsere Mutter hätte es uns niemals erlaubt. Mit der Zeit waren wir wirklich gut geworden, bis Rose Henry geheiratet hatte. Sie war sieben Jahre älter als ich, also sechsundzwanzig und Ian war mittlerweile zweiundzwanzig. Ich war die Jüngste der Silver-Kinder mit meinen neunzehn Jahren. Gerade fühlte ich mich nicht reif genug für meine Situation, die mich in diesem Moment wieder einholte, weil ein humpelnder Mann im mittleren Alter eingetreten war. Er betrachtete mich kurz mit forschendem Blick, der mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte, weil er nur noch ein Auge hatte. „Iss der Doktor da, Kleine?", fragte er nuschelnd, wobei er ein paar fehlende Zähne entblößte. Geschockt nickte ich und deutete in die Richtung, in der er Mr Sandrian finden würde.

Ich empfand Genugtuung dabei, dass der Arzt sich mit diesem Mann abgeben musste, doch dann wurde mir bewusst, dass ich ihn würde begleiten müssen, und zwar den ganzen restlichen Tag. Ich vergrub das Gesicht in den Händen und spürte, wie meine Entschlossenheit schwand. Ich schalt mich selbst. Ich würde nicht aufgeben. Diese Genugtuung würde ich Mr Sandrian nicht verschaffen.

Ich wartete einige Minuten, bis der Mann wieder herauskam und mich mit neuem Interesse betrachtete. Mr Sandrian lehnte hinter ihm im Türrahmen und beobachtete mich still. „Hab gehört, dass du mir helfen sollst?", fragte mich der Mann. „Das ist richtig, Sir", brachte ich heraus und bedachte den Arzt mit einem vernichtenden Blick, während ich aufstand. „Dann sollten wir jetzt gehen, Kleine. Ich muss noch en paar Dinge erledigen." Ich verzog das Gesicht und folgte dem Kerl nach draußen. „Sir? Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?", fragte ich um Höflichkeit bemüht. „Darfs du." Ich seufzte. Er brachte mich in die missliche Lage, erneut fragen zu müssen. „Wie heißen Sie?" „Howard Michaels." „Also gut, Mr Michaels", meinte ich leicht genervt, während ich versuchte, den Saum meines Rockes zu retten, der durch den Dreck der Straße gezogen wurde. „Iss en feiner Fummel, den de da anhass", bemerkte Mr Michaels. „Biss wohl nich von hier, hm?" „Nein, allerdings nicht", gab ich mit gerunzelter Stirn zurück. Ich fühlte mich unwohl dabei, mit einem ungepflegten, fremden Mann durch die Straßen Londons zu ziehen. „Wo gehen wir hin, Mr Michaels?" Ich weigerte mich, einen völlig Fremden einfach zu duzen, auch wenn mein Gegenüber kein Problem damit zu haben schien. „Einkaufen. Ich brauch noch en paar Sachen."

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt