Kapitel 23

92 10 2
                                    

Sicht: Leander Sandrian


Ich fühlte mich überraschend wohl an diesem herrlichen Frühsommertag, der die Lebenslust in mir geweckt hatte. Oder war es etwas anderes, das mich heute so fröhlich stimmte?

Konnte es vielleicht damit zusammenhängen, dass Miss Silver wieder da war, zwar blass, in schwarz gekleidet, aber immer hin wieder da?

Auch, wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, hatte ich ihre Anwesenheit vermisst. Ab und zu ironische Bemerkungen, die mich heimlich amüsierten, auch wenn ich mir davon nichts anmerken ließ und ihre einfache Gegenwart, die meine Einsamkeit vertrieb?

Ich seufzte leise in mich hinein und las den kurzen Abschnitt in dem Buch, das ich aufgeschlagen hatte, nur um ihrem stechenden Blick zu entkommen.

Keines der Worte, das meine Augen erfassten, hinterließ einen Sinn in meinem Kopf und ich schlug es wieder zu, um mich notgedrungen wieder zu der hübschen, aber scharfsinnigen jungen Frau umzudrehen, die für mich arbeitete und mich mit ihren stechend blauen Augen zu durchleuchten schien.

„Was haben Sie gelesen?", fragte sie mich leise. Miss Silver hatte ein erschreckendes Talent dafür, mir Fragen zu stellen, die mich aus dem Konzept brachten. „Es ist ein Buch über..." Ich starrte verstohlen auf den Titel, um mir meine Ahnungslosigkeit nicht anmerken zu lassen. „Medizin."

Ihre Lippen umspielte ein sarkastischer Zug, als sie sagte: „Was Sie nicht sagen." „Wenn Sie es genau wissen wollen, es ist ein Buch über Rheumatologie." Sie nickte zufrieden und wandte sich zur Tür.

„Mr Gray, kommen Sie bitte." Ein mittelalter Mann, der schon eisgraue Haare hatte, trat ein, grüßte mich und ignorierte Miss Silver einfach. Sie zog scharf die Luft ein, äußerte sich jedoch nicht zu dem Thema.

„Was fehlt Ihnen denn, Mr Gray?", fragte sie stattdessen, bevor ich dazu kommen konnte. Er warf ihr einen missbilligenden Blick zu. „Ich möchte, dass diese Frau den Raum verlässt", verlangte er von mir. Ich hob erstaunt die Augenbrauen. „Warum?", fragte ich ruhig und musterte ihn abschätzig.

„Sie ist eine Frau", erwiderte er empört. „Na und?", fauchte Miss Silver ungehalten. Ich lächelte leicht. „Hören Sie, Mr Gray, Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie akzeptieren Miss Silvers Anwesenheit und bleiben hier oder ich muss Sie bitten zu gehen."

Dem Mann verschlug es vorübergehend die Sprache. „Ich muss mir eine solche Impertinenz nicht anhören."

Mit diesen Worten stapfte er zur Tür und streckte die Hand nach der Türklinke aus. Doch bevor er die Tür öffnen konnte, brach er zitternd am Boden zusammen.

Miss Silver und ich sprangen auf und erreichten ihn gleichzeitig. „Fühlen Sie den Puls", befahl ich und überprüfte gleichzeitig seine Atmung. Beides war in Ordnung. Sie öffnete eines seiner Augenlieder und wir erstarrten. Sie waren gelb.

„Leberversagen", diagnostizierte ich tonlos. „Er wird sterben." Ich sah, dass sie bleich wurde und hätte sie am liebsten schützend in den Arm genommen. Doch das konnte ich natürlich nicht. „Kommen Sie, helfen Sie mir", sagte ich und wünschte mir, nicht so viel von ihr verlangen zu müssen.

Zusammen trugen wir ihn ins Nachbarzimmer und legten ihn in ein Bett. „Können wir wirklich nichts für ihn tun?", fragte die junge Ärztin mich mit verzweifelter Miene. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich fürchte nicht." Ich unternahm erst gar keinen Versuch, sie fort zu schicken, denn in ihrem Gesicht las ich Entschlossenheit.

„Wie lang hat er noch?" „Das kann ich schwer beurteilen, aber er liegt schon im hepatischen Koma. Er hat noch ein paar Stunden, vielleicht noch einen Tag." Ich schauderte.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt