Kapitel 10

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Sicht: Mr Sandrian

Es war viertel vor acht, als sie klopfte. Ich hörte es und stieg die Treppen meiner Wohnung nach unten und betrat die Praxis. Ich atmete einen Moment den Geruch ein, der in diesen Räumen hing und wappnete mich für den neuen Tag, der mit Miss Silver beginnen würde.

Langsam schob ich die Hand in meine Hosentasche, zog den Schlüsselbund hervor und steckte ihn ins Schloss. Dann öffnete ich die Tür und blickte auf Miss Silver hinab. Sie knickste leicht zur Begrüßung und wünschte mir einen guten Morgen. Ich hasste es, wenn Leute mir einen guten Morgen wünschten, weil jeder neue Tag für mich schmerzhaft war.

Trotzdem zwang ich die Worte über meine Lippen. Sie klangen etwas holprig und ich war froh, als sie heraus waren. Ich stand einfach da und schaute die junge Frau an. Erst, als sie sich ungeduldig räusperte, wurde mir bewusst, dass ich mich schon wieder in meinen eigenen Gedanken verloren hatte.

„Entschuldigen Sie bitte, Miss Silver“, murmelte ich und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. Sie trat an mir vorbei und mein Blick haftete noch immer auf ihr.

Sie sah müde aus, ähnlich, wie ich mich ständig fühlte und war ganz offensichtlich nicht auf der Höhe. „Haben Sie nicht gut geschlafen?“, fragte ich. „Offensichtlich nicht“, gab sie mürrisch zurück. Ich hob die Augenbrauen und sagte einfach nichts. Stattdessen streckte ich die Hand aus und bedeutete ihr, einzutreten und voraus zu gehen. Sie folgte der Geste und wir betraten gemeinsam den Behandlungsraum.

Ich ließ mich in den Stuhl hinter meinem Schreibtisch sinken und faltete meine Hände auf dem Tisch, während ich mich nach vorn beugte. Miss Silver nahm vor mir Platz und schaute mich erwartungsvoll an. Ich überlegte, was wir heute durchnehmen sollten und blickte ins Leere. „Haben Sie das Buch auswendig gelernt?“, fragte ich schließlich. Ich wusste sofort, dass sie es nicht getan hatte, denn ihr stieg plötzlich die Röte ins Gesicht. „Miss Silver“, seufzte ich ungehalten. „Was hatte ich Ihnen zum Thema gesagt, dass Sie das Ganze hier ernst nehmen müssen?“

„Es tut mir wirklich, wirklich leid, Mr Sandrian, aber mein Bruder hat meiner besten Freundin gestern völlig unerwartete einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe mich eigentlich mit ihr getroffen, um zu lernen, aber…“, verhedderte sie sich sofort in Entschuldigungen.

Ihre Worte trafen mich, obwohl ich nicht wusste, warum. Das einzige, das ich dagegen tun konnte, war, meine Gefühle hinter einer Maske zu verstecken. „Solange Sie nicht selber einen Heiratsantrag bekommen haben, werde ich das nicht als Entschuldigung gelten lassen. Ich erwarte, dass Sie sich anstrengen.“ Meine Worte klangen schroff und ich sah, dass es sie traf, denn sie zuckte zusammen. „Ja, Sir“, nuschelte sie betreten und ich seufzte innerlich.

Wieso musste ich auch jeden vor den Kopf stoßen? Sie machte sich doch eigentlich gut und ich wusste, dass ich in diesem Moment nicht gerecht zu war. Obwohl wir uns schon einige Wochen kannten, wusste ich noch immer nicht, wie ich sie einzuschätzen hatte, ob ich sie mochte oder nicht. Sie war schwierig zu berechnen und schien sich nicht besonders wohl zu fühlen in meiner Gegenwart, was ich ihr an sich auch nicht verübeln konnte. Sie war jung, hübsch und wissbegierig und wurde hier mit einem düsteren in seinen Depressionen gefangenen Mann konfrontiert. Nicht, dass ich viel älter war als sie, aber ich hatte das Gefühl, dass uns mehr als nur fünf Jahre trennten. Aber ich war ihr Lehrer und nicht da, damit sie mich mochte.

„Also gut“, meinte ich. „Lassen wir uns mit den Schulterwesten beginnen.“ Sie stand auf und holte die Schlingen aus dem Regal.
Ich folgte ihr und krempelte erneut meinen Hemdsärmel hoch. Ich spürte, dass eine Anspannung in der Luft lag. Also musste ich irgendetwas sagen, das die Stimmung auflockern würde. Das Problem war jedoch, das ich es nicht über mich brachte, irgendetwas Belangloses zu sagen.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt