Als ich später zum Tee mit Henry zusammen saß, war meine Stimmung gedrückt. Ein Buch lag in meinem Schoß, doch ich konnte mich einfach nicht überwinden, es aufzuschlagen. Meine Gedanken kreisten um meine Zukunft und ich wusste nicht mehr, wie ich zu meinem Studium stand.
Ich nahm einen Schluck Tee und aß ein Stück Kuchen. „Ist alles in Ordnung bei dir, Raven?“ Ich schaute auf. Henry musterte mich. „Du siehst blass aus.“ Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihm alles erzählen sollte, verspürte aber wenig Lust dazu. „Ja. Es ist alles gut“, sagte ich also. Er hob skeptisch eine Augenbraue. „Raven. Ich sehe es dir an, wenn du lügst“, ermahnte er mich streng. Ich seufzte. Na gut, dann eben nicht.Also gab ich klein bei und beichtete ihm meine Sorgen. Ich hoffte nur, dass er nicht spöttisch reagieren würde, doch meine Sorgen waren unbegründet.
Henry legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Ich verstehe, was du meinst“, brummte er. Wir schwiegen, doch dann sprang er plötzlich auf. „Wo willst du hin?“, fragte ich ihn erstaunt. „Ich muss etwas erledigen. Wir sprechen uns heute Abend.“ Mit diesen Worten rauschte seine hagere Gestalt aus dem Raum und ließ mich völlig irritiert zurück. Was hatte das jetzt zu bedeuten?
Ich vertrieb mir meine freie Zeit bis zum Abend mit lesen. Irgendwann gesellten sich auch Rose und Sophie zu mir. „Rose, hast du eine Ahnung, wo dein Mann hingegangen ist?“ Sie schaute mich fragend an. „Was meinst du? Ist er ausgegangen?“ Ich seufzte. „Offensichtlich. Wir haben uns unterhalten und dann ist er plötzlich aufgesprungen und meinte, wir würden uns heute Abend unterhalten.“ Sie hob die linke Augenbraue und setzte sich mir gegenüber. Rose faltete die Hände in ihrem Schoß und blickte mich mit ihren strahlend blauen Augen an, die meinen eigenen so ähnelten. „Du kennst ihn doch, Raven. Vielleicht ist ihm eine Verabredung mit einem Kollegen eingefallen. Mach dir keine Gedanken darum und genieß lieber deinen Nachmittage“, ermahnte sie mich schmunzelnd. Ich nickte nachdenklich und wandte mich wieder meinem Medizinwälzer zu.
Sophie krabbelte auf meinen Schoß. „Was liest Raven?“, fragte sie mich leise, während ihre Finger über die Seiten des Buches glitten. „Etwas für mein Studium, weißt du? Irgendwann möchte ich Krankheiten heilen können und deshalb lese ich ein Buch darüber.“ „Kannst du´s mir vorlesen?“
Ich lachte leise. „Das hier nicht, aber wenn du mir ein anderes bringst, werde ich dir gerne vorlesen“, murmelte ich in ihr Ohr.Begeistert rutschte sie von meinem Sessel und lief davon. Sie brachte mir ein Buch mit Heldengeschichten und machte es sich vor dem Kamin bequem. Ich überschlug die Beine und schloss kurz die Augen, dann schlug ich das Buch auf und begann zu lesen.
Sophie hing an meinen Lippen und Rose hatte sich Strickzeug genommen, doch ich wusste, dass auch sie mir zuhörte, denn ab und zu nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, dass sich ihre Hände nicht bewegten. Das Vorlesen war etwas, das mein Vater mir beigebracht hatte. Seine Stimme war wie verzaubert, sodass sie jeden in ihren Bann zog und er hatte seine Begabung an mich weiter gegeben.
Die Zeit verging wie im Flug und als Mr George uns schließlich zum Abendessen rief, war ich völlig irritiert. Ich quälte mich aus meinem Sessel hoch und wir gingen in das Esszimmer, wo schon dampfendes Essen und ein aufgeregt aussehender Henry auf uns warteten. Seine blonden Haare standen ein wenig von seinem Kopf ab, als ob er sich in den letzten Stunden häufig dadurch gefahren hätte.
„Wo bist du gewesen?“, fragte Rose ihn, kurz bevor ich zu der gleichen Frage ansetzen konnte. Er lächelte geheimnisvoll. „Setzt euch vielleicht lieber erst einmal. Ich habe sehr interessante Neuigkeiten.“ Neugierig geworden rückte ich mir schnell einen Stuhl zurecht und wartete, dass auch Sophie und Rose sich setzten. Ich bedachte sie mit einem ungeduldigen Blick und wandte mich dann wieder an Henry. „Nun sag schon, was los ist“, forderte ich ihn auf. Er grinste süffisant und tat sich seelenruhig Kartoffeln auf, ohne auf meine Frage einzugehen. Ich kaute nervös auf der Unterlippe. Warum war ich auch ein so neugieriger Mensch? Was interessierte es mich, was mein Schwager trieb? „Henry!“, rief ich, als ich mich nicht mehr zusammenreißen konnte.
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Silver Love
Historical Fiction„Schließen Sie die Augen und geben Sie sich der Musik hin", flüsterte er in mein Ohr und ich seufzte. Dann folgte ich seinem Ratschlag und schloss die Augen. „Jetzt atmen Sie tief aus und lassen die Anspannung los." Tatsächlich verschwanden plötzlic...