Nachdem ich mich von Mr Jenkins verabschiedet und ihm mitgeteilt hatte, dass ich zusammen mit Arianna und Mr Sandrian am nächsten Nachmittag wiederkommen würde, war ich ohne Umschweife zurück zur Praxis gefahren.
Es war bereits früher Nachmittag, als ich eintrat und halb verwundert feststellte, dass keine Patienten mehr hier waren. Dann fragte ich mich, warum mich das so verblüffte, schließlich musste Mr Sandrian sich um seine Schwester kümmern. Ich war mir mittlerweile ziemlich sicher, dass sie seine Schwester war. Die beiden sahen sich so ähnlich, dass es gar nicht anders sein konnte.
„Mr Sandrian?“, rief ich leise und wartete, ob ich eine Antwort erhielt. Einen Moment später trat der Arzt aus der verborgenen Tür.
Er war noch immer bleich im Gesicht, doch hatte er wieder zu seinem kontrollierten, strengen Selbst gefunden. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen schaute er mir entgegen. „Wir müssen dringend reden“, begann er ohne Vorgeplänkel. „Ich weiß. Wir haben vorhin nicht alles durchdacht.“
Er nickte. „Bitte setzen Sie sich“, meinte er und ich setzte mich auf den Stuhl, der seinem gegenüber stand. Er hingegen blieb stehen und schritt den Behandlungsraum auf und ab. Damit machte er mich zwar total nervös, er schien jedoch keine Notiz davon zu nehmen. „Wir können den Rechtsanwalt nicht beauftragen. Ein öffentlicher Prozess würde meiner Schwester mehr Schaden als Nutzen bringen.“
Ein leises Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ohne uns abzusprechen, hatten wir den gleichen Gedankenpfad verfolgt und waren zum gleichen Schluss gekommen. „Da haben Sie sicherlich recht, Mr Sandrian. Deshalb habe ich Mr Jenkins auch nicht gesagt, was genau passiert ist. Ich denke, wir sind uns beide einig, dass wir trotzdem etwas unternehmen müssen?“
Ich hatte mich umgewandt, um ihn besser sehen zu können und plötzlich hielt er neugierig inne, als ihm bewusst wurde, dass ich auf etwas Bestimmtes hinauswollte. „Miss Silver, was wollen Sie andeuten?“, fragte er mich ruhig, während er mit verschränkten Armen auf mich herabschaute.
„Nun ja, wenn wir diesen Mr Jones nicht für das eigentlich Verbrechen anklagen können, dann müssen wir ihm eben ein anderes in die Schuhe schieben. Diebstahl, Brandstiftung, was weiß ich. Auf jeden Fall muss er seine gerechte Strafe erhalten.“
Sein Gesicht verzog sich in Erstaunen und dann zuckten seine Mundwinkel verräterisch. „Miss Silver, ich fürchte, ich habe Sie unterschätzt. Das ist ein sehr gerissener Plan und er könnte tatsächlich funktionieren.“
Sein anerkennender Blick ruhte auf mir und endlich setzte er sich und überschlug die Beine. Seine Bewegungen waren elegant und gelassen und ich fragte mich, warum er jetzt eine solche Ruhe ausstrahlte. „Haben Sie jemanden, dem Sie rückhaltlos vertrauen?“, fragte ich ihn schließlich. „Jemanden, der Ihnen helfen könnte, Mr Jones etwas unterzujubeln?“
Er runzelte einen Moment nachdenklich die Stirn uns spielte dabei unbewusst mit einem Stift in der Hand. „Ja, vielleicht.“ Ich hob die Augenbrauen. „Vielleicht oder ja?“ „Ja. Mein Freund Jim könnte uns helfen. Er lebt hier in London, aber es dürfte schwierig sein, ihn zu kontaktieren…“ „Warum?“ Der Arzt betrachtete mich einen Moment abwägend, als wolle er prüfen, ob ich es wert war, zu antworten. „Nun, sagen wir, er hat sich bei einigen Leuten unbeliebt gemacht und nimmt das Gesetz nicht allzu genau“, deutete er an und ich zog scharf die Luft ein.
„Er ist Kriminell? Mr Sandrian, wieso sind Sie mit jemandem befreundet, der gegen das Gesetz verstoßen hat?“ „Er ist kein schlechter Kerl. Vor einigen Jahren hat er mir sehr geholfen, als ein paar Arbeiterburschen hinter mir her waren. Sie fanden, ich sei eine Schande für sie, weil ich studierte und waren der Meinung, dass mir ein blaues Auge und eine gebrochene Nase ganz gut stehen würden. Jim hat mich damals gerettet, bevor sie mich zusammenschlagen konnten.“ Ich starrte ihn erstaunt an, von so viel Offenheit überrascht. Es war schwer vorstellbar, dass ihn jemand zusammenschlagen könnte. Er war ziemlich groß und sah auch nicht schwach aus.
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Silver Love
Historical Fiction„Schließen Sie die Augen und geben Sie sich der Musik hin", flüsterte er in mein Ohr und ich seufzte. Dann folgte ich seinem Ratschlag und schloss die Augen. „Jetzt atmen Sie tief aus und lassen die Anspannung los." Tatsächlich verschwanden plötzlic...