Kapitel 37

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Sicht: (Raven Silver) Isabelle Marino

„Komm, wir setzen uns erst einmal. Wir haben ein eigenes Abteil.“ Ich zog die Tür auf und schob die Kinder vor mir her. Leander stand noch immer wie festgenagelt da und ich griff nach seiner Hand.

„Es ist nicht der selbe Zug, verstehst du? Abby ist nicht hier gestorben.“ „Ich weiß. Es ist trotzdem… beklemmend.“ Ich schaute über meine Schulter, konnte niemanden entdecken und hauchte einen Kuss auf seine Wange. „Komm zurück ins Leben“, flüsterte ich in sein Ohr. „Ich bin hier an deiner Seite.“

Er schenkt mir ein Lächeln, das seine Augen nicht im Ansatz erreichen konnte. „Ich weiß.“ Er folgte mir ins Abteil und setzte sich. Seine Hände waren beinahe verknotet, die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Langsam ruckelte der Zug los und mir stieg der schwere Geruch von Dampf in die Nase. Ich verstaute alle unsere Taschen im Gepäckfach und griff nach Jonathans Hut, den ich ihm in die Hand drückte.

Grinsend zwinkerte ich ihm zu und hoffte, er würde den Frieden wahren.

Die nächsten Minuten vergingen schleichend und das einzige, was ich tun konnte, war nach draußen zu starren, während die Landschaft an uns vorbeizog.

Irgendwann hielt ich das Nichtstun nicht mehr aus und holte mir eines meiner Lieblingsbücher aus meiner Tasche. Oliver Twist von Charles Dickens. „Kannst du uns das vorlesen?“, fragte Annabelle plötzlich schüchtern. Ich schaute überrascht auf, starrte dann auf das Buch in meinen Händen und blinzelte mehrfach verwirrt.

„Ja, natürlich. Kennt ihr Oliver Twist?“ „Nein, wer ist das?“ Die Kleine setzte sich dicht neben mich und starrte auf den grünen Einband.

„Oliver ist der Held der Geschichte. Wenn du möchtest, lese ich sie dir vor.“ Begeisterung ließ die Röte in ihre Wangen steigen und ich stellte fest, dass sie unglaublich süß war.

„Komm her.“ Sie krabbelte auf meinen Schoß und ich öffnete das Buch. Die erste Seite war illustriert und ich lächelte bei dem Anblick. „Jonathan, willst du nicht auch zuhören?“ Der Junge starrte mir widerspenstig in die Augen und ich seufzte.

Leander sah so aus, als wolle er seinen Sohn zurechtstutzen, doch ich schüttelte den Kopf. „Er braucht Zeit.“ Er zuckte mit den Schultern und drückte damit stumm aus, wenn du meinst. Ich begann zu lesen und ließ fremde Welten mit meiner Stimme erscheinen. Immer wieder dachte ich sowohl an meinen Vater, als auch Sophie. Ich würde sie beide schrecklich vermissen.

Nach und nach versanken wir immer tiefer in die Geschichte von Oliver Twist und ich merkte, dass ich alle in diesem Abteil mit meiner Stimme gefangen hielt, eine Gabe, für die ich jetzt dankbar war. Selbst Leander schien zu lauschen, auch wenn ich es nicht genau zu sagen vermochte, da er einfach ins Leere nach draußen starrte.

Jonathan hingegen saß mit offenem Mund da und seine Augen glänzten beinahe fiebrig vor Aufregung. Die Zeit verging wie im Flug und die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Bald war es zu dunkel, um zu lesen.

Ich schlug das Buch zu und räusperte mich, da meine Stimme überanstrengt war. Ich sah, dass alle blinzeln mussten, um wieder in die Wirklichkeit zurück zu finden. „Du hast eine magische Stimme“, brachte Leander heiser hervor. „Das habe ich von meinem Vater geerbt. Er konnte Figuren zum Leben erwecken.“ Ein Seufzen entrang sich meiner Kehle.

„Ich vermisse ihn.“ Er schluckte schwer und ich spürte, dass er mich nur zu gut verstand. „Leander, ich…“ Er schaute bitter auf. „Wir sollten unsere neuen Namen verwenden. Zur Sicherheit.“ Ich nickte stumm. „Neue Namen?“ Die Kleine rutschte von meinem Schoß hinunter und blickte mit großen Augen zwischen uns hin und her.

„Anni, wir ziehen in ein neues Land und deshalb brauchen wir neue Namen. Ich bin Leandro Marino und Raven wird ab sofort Isabelle Marino heißen.“ Der kleine Junge verengte die Augen zu Schlitzen. „Ihr seid nicht verheiratet.“

Leander oder Leandro lachte rau und seine Stimme klang beinahe zynisch. „Du bist viel schlauer als es erlaubt sein sollte. Mach dir keine Gedanken darum. Ihr könnt eure Vornamen behalten.“ „Ja, da sind wir aber erleichtert.“

Überrascht musterte ich den kleinen Jungen, der vielleicht fünf oder sechs war. Die Ironie hätte ich einem so kleinen Knirps gar nicht zugetraut, doch er schien intelligent zu sein, vielleicht intelligenter als die meisten Kinder. Er würde ganz nach seinem Vater kommen.

Ich grinste und warf Leander…Leandro einen amüsierten Blick zu. Er fing ihn auf, schien jedoch ganz und gar nicht glücklich mit dem Verhalten der Zwillinge zu sein.

Der Zug hielt und wir erhoben uns aus den Sitzen. Ich streckte mich und massierte meinen verspannten Nacken. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um die Taschen herunterzuholen. „Warte, ich mache das“, murmelte Leandro und beugte sich über mich, wobei ich seinen Körper an meinem Rücken fühlen konnte.

Ich erschauderte und auch er schien es zu spüren. Für einen Moment verharrten wir regungslos und ich konnte seinen warmen Atem in meinem Nacken fühlen. „Wir sollten aussteigen“, raunte er in mein Ohr.

„Hm, ja, das sollten wir“, erwiderte ich leise und drehte mich zu ihm um. Wir waren uns so nahe, dass ich kaum atmen konnte, doch im nächsten Moment brach er die Verbindung und holte unsere Reisetaschen hinunter. Ich wollte meine entgegen nehmen, doch er schüttelte den Kopf. „Sei nicht albern. Ich trage die.“

Wie viel sich in den letzten Monaten zwischen uns verändert hatte. Am Anfang unserer Beziehung hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, mir irgendetwas abzunehmen. Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht und ich war mir sicher, dass auch er daran dachte.

„Komm, wir müssen gehen.“ Er griff nach meiner Hand und zusammen mit den beiden Kleinen stiegen wir aus dem Zug in die kalte Nacht.

Leander…Leandro atmete erleichtert aus. „Ich werde mich nie daran gewöhnen können, dich Leandro zu nennen“, stöhnte ich. Er grinste und wirkte plötzlich wie ausgewechselt.

Der Zug hatte ihm wirklich zugesetzt. „Dann lass es. Nenn mich einfach Lee. Das fällt nicht auf.“ „Alle nennen Daddy so“, piepste Annabelle und ich lächelte. „Sehr gerne, Lee.“

„Sind Sie Mr Sandrian, Sir?“ Wir fuhren erschrocken herum und fanden uns einem breitschultrigen, bärtigen Mann gegenüber. „Wer will das wissen?“

„Marcus Scott. Sie kennen meine Mutter.“ „Woher wussten Sie, dass wir hier her kommen würden?“ „Sie werden gesucht. Alle Beamten der Stadt sind auf Ihrer Fährte und es wimmelt nur so vor Officern am Bahnhof. Also dachte ich mir, dass Sie hier sein müssen.“

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt