Kapitel 40

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Sicht: Rose Evans

„Rose?“ Henry stürmte aufgebracht in den Salon und starrte mich zornig an. Ich kniff die Augenbrauen zusammen, drückte Sophie einen Kuss auf die Schläfe und schob sie aus dem Raum. „Henry, darf ich fragen, was dich so aufgebracht hat?“ Er musterte mich abwägend.

„Du weißt es doch oder nicht? Sie hat es dir gesagt…“ „Wer hat mir was gesagt?“ Er knurrte wütend. „Tu doch nicht so. Raven und du hängt doch immer unter einer Decke.“ Verdammt, was war hier eigentlich los? „Was ist mit ihr?“ „Sie ist fort. Keiner hat eine Ahnung, wo sie sein könnte. Rose, du musst mir sagen, wenn du irgendetwas über ihren Aufenthaltsort weißt“, fuhr er nun sanfter fort.

Raven war fort? Wo konnte sie bloß sein? Ich hatte einen Verdacht, doch ich würde ihn Henry nicht unter die Nase reiben. So sehr ich meinen Mann liebte, meine Schwester war unglücklich mit Kurt Jenkins und ich würde sie nicht dazu zwingen, zu ihm zurückzukehren.

„Es tut mir leid, Henry. Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Bist du denn sicher, dass sie wirklich fort ist?“ Ich sah, dass ich ihn reizte, weil er spüren konnte, dass Raven in Schutz nahm.

„Es scheint dich nicht zu überraschen.“ Ich lachte freudlos. „Nein. In der Tat nicht. Hast du wirklich geglaubt, sie zwingen zu können, bei Kurt zu bleiben? Hast du wirklich geglaubt, sie würde sich dir und Mutter fügen? Wir sprechen von Raven Silv…“ „Jenkins. Ihr Name ist Raven Jenkins.“

Ich schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Henry, komm zu Vernunft. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, aber selbst wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht verraten. Du hast unserer Mutter geholfen, Raven zu betrügen.“ „Ich wollte nur das Beste für sie.“ „Das glaube ich dir ja sogar. Henry, wann hast du angefangen, auf meine Mutter zu hören und nicht mehr auf dein Herz? Weißt du noch, als du Mr Sandrian damals bei seinem Studium geholfen hast?“

In seinem Blick schien sich etwas zu verändern, aber es gefiel mir ganz und gar nicht. „Sandrian. Mit ihm ist sie abgehauen, nicht wahr?“ Ich seufzte. „Setz dich.“ Er runzelte die Stirn. „Bitte?“ „Setz dich.“ Meine Stimme klang kühl und er schien zu spüren, dass ich es sehr ernst meinte und er jetzt nicht widersprechen durfte.

Unzufrieden ließ er sich in seinen Sessel sinken und faltete die Hände. „Rose, was weißt du?“ Ich verdrehte entnervt die Augen. „Nichts. Das musst du mir wirklich glauben. Aber ich möchte, dass du meine Schwester verstehst. Ich habe keine Ahnung, ob sie tatsächlich mit Mr Sandrian fortgelaufen ist, aber wundern würde es mich nicht.“

Er setzte an, um mir ins Wort zu fallen, doch ich ließ ihn mit einem eiskalten Blick verstummen. „Henry, liebst du mich?“ Er nickte. „Ja, natürlich, aber ich verstehe nicht, was das hier mit zu tun hat.“ „Alles, wenn man es genau nimmt. Sie liebt diesen Arzt und mit deiner Hilfe hat Mutter sie erpresst. Sie hat gedroht, ihm alles zu nehmen und um ihn zu schützen, hat Raven jemanden geheiratet, den sie zu tiefst verabscheut.“

Er zog erstaunt die Luft ein. Offenbar war ihm nicht klar gewesen, wie stark Ravens Abneigung für Kurt tatsächlich gewesen war. „Ich dachte, sie könnte sich vielleicht an ihn gewöhnen und sich in ihn verlieben.“ Ich lachte spöttisch. „Du bist jetzt schon seit einigen Jahren verheiratet und verstehst noch immer nicht, wie die Liebe funktioniert.“

Empört stand er auf. „Meine Gefühle für dich sind echt.“ Ein Lächeln umspielte meine Lippen, diesmal versöhnlicher und ich ging auf ihn zu. „Das glaube ich dir und auch ich empfinde viel für dich. Aber vielleicht sind wir beide einfacher gestrickt als Raven. Du hast mir bei unserer ersten Begegnung direkt dein Herz geschenkt, genau wie ich dir. Raven hingegen liebt nicht auf diese Art. Sie braucht lange, bis sie Vertrauen aufbaut und Gefühle entwickelt, aber wenn sie da sind, wird sie sich sicherlich nicht davon abbringen lassen, egal, wer daran rütteln will.

Wenn sie hier bliebe, würde sie unglücklich werden und sich auf ewig nach dem verzehren, der ihr Herz erobert hat. Verstehst du? Das ist der Grund, warum wir niemandem verraten dürfen, was wir ahnen.“

Er schaute mich für einen langen Moment an und musterte mich ernsthaft. Dann nickte er. „In Ordnung. Von mir wird niemand etwas erfahren.“

Ein erleichtertes Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus, während ich gleichzeitig unglaublich traurig wurde. Wahrscheinlich würde ich meine Schwester nie wieder sehen und ich war sauer, dass sie mich nicht eingeweiht hatte. Und trotzdem freute ich mich für sie, dass sie einen Neuanfang beginnen konnte.

In diesem Moment trat Mr George ein. „Ein Brief für Sie, Ma´am.“ Neugierig nahm ich den Umschlag entgegen und öffnete ihn mit zittrigen Fingern. Konnte er von Raven sein? Ein Brief, in dem sie erklärte und sich rechtfertigte? In der Tat.

Henry hob fragend eine Augenbraue. „Von Raven.“ Er stellte sich hinter mich und las die folgenden, sorgfältig geschriebenen Zeilen mit.

Liebe Rose,
vergib mir dafür, dass ich es dir nicht persönlich sagen konnte. Es schmerzt mich, dass du es auf diesem Weg erfahren musst, aber ich werde fortgehen. Zusammen mit Leander und ich werde nicht zurückkehren.

Dich, Sophie, Ian und Mary zu verlassen, ist die schwerste Entscheidung, die ich je getroffen habe, aber ich weiß, dass ich mit Leander mein Glück finden kann. Er ist der Richtige und ich hoffe inständig, dass du es verstehen kannst. Es war nie meine Absicht, einen von euch zu verletzen, auch wenn ich fürchte, dass es dafür bereits zu spät ist.

Ich möchte, dass du weißt, dass ich mir meiner Entscheidung absolut sicher bin und vielleicht wird es dich ein wenig beruhigen, dass ich einen Mann an meiner Seite habe, der sich darauf versteht, Krankheiten zu heilen. Ich bin in guten Händen, besseren, als Kurts es jemals geworden wären.

Bitte richte Henry aus, dass ich ihm vergebe, wenn er wieder zu Verstand gekommen ist. Ich weiß, dass er ein guter Mann ist und sicher nur das Beste für mich wollte, auch wenn sein und das Handeln unserer Mutter maßgeblich zu meinem drastischen Schritt geführt haben.

Mir bricht es das Herz, wenn ich daran denke, dass ich euch und vor allem Sophie nie wieder sehen werde. Ich liebe die Kleine wie eine eigene Tochter und nun werde ich ihr ganzes Leben verpassen. Ich bitte dich nur um eine Sache. Erklär ihr, warum ich gehen musste, wenn sie älter ist und sag ihr, wie sehr ich sie vermissen werde.

Rose, ich hab eine Entscheidung getroffen, die unser aller Leben verändern wird, was sich jedoch nicht ändert ist, wie stolz ich bin, dich als meine große Schwester zu haben. Ohne dich, wäre ich nicht der starke Mensch, der ich bin und ich bin dir dankbar für alles, was du je für mich getan hast.

In diesem Brief kann ich dir noch nicht verraten, wo wir hin gehen werden für den Fall, dass jemand mitliest, für dessen Augen diese Zeilen nicht bestimmt sind, aber wenn Gras über die ganze Sache gewachsen ist, werde ich dir schreiben. Das ist ein Versprechen und ich halte meine Versprechen wie du weißt. Ich werde euch sicher nicht vergessen, liebste Schwester.

Ich hoffe, dass ihr alle wohlauf seid
In Liebe
Raven Silver

Zwei große Tränen fielen auf das Papier und ließen die Schrift meiner kleinen Schwester verlaufen. Sanft schlossen sich Henrys Arme um meine Taille. „Es wird ihr gut gehen. Sie ist eine starke und unabhängige Frau.“ Ich schluchzte und musste gleichzeitig lachen. „Ich weiß.“

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt