Kapitel 17

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Rückblende

Sicht: Henry Evans

London, 01. 10. 1889

Es war etwa halb neun, als der junge Medizinprofessor der University of London die Straße entlang eilte. Seine schulterlangen Haare flatterten im Wind und er war froh, dass er einen dicken Mantel trug. Er konnte es kaum erwarten, ins warme Innere der Universität zu gelangen und sich aufzuwärmen. Der Professor namens Henry Evans öffnete die schwere Tür und lief in jemanden hinein, der gerade nach draußen stürmen wollte.

Sein Gegenüber strauchelte und er griff geistesgegenwärtig nach dem Arm des Fremden und hinderte ihn am Fallen. „Danke, Sir“, sagte der junge Mann mit dem grimmigen Blick. Es war ein Moment bevor Henry bemerkte, dass er zitterte.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er freundlich und klopfte dem anderen auf die Schulter. Der schnaubte. „Der einzige, der mir helfen könnte, wäre der Medizinprofessor dieser Universität.“ Henry lachte. „Da haben Sie aber Glück, mein Freund. Sie sind gerade in ihn hineingelaufen.“

Der junge Mann schaute erstaunt auf und Henry sah einen Hoffnungsschimmer in seinen Augen schimmern.  „Wirklich?“ Er nickte und beschloss, dass er seiner Neugierde Abhilfe beschaffen wollte.

„Ja, kommen Sie in mein Büro. Dann können Sie mit mir über Ihr Problem sprechen. Sie haben mich neugierig gemacht“, schlug er vor und das Gesicht seines Gegenübers hellte sich sichtlich auf. „Wirklich?“ „Ja, warum nicht?“ Der junge Mann lächelte zufrieden und folgte Henry.

Sie durchquerten die Korridore der Universität, bis sie das Büro des Professors erreichten. „Hier herein, bitte.“

Sie betraten das geräumige Büro, das mit hunderten Büchern vollgestopft war. Henry bemerkte das begierige Glitzern nach Wissen in den Augen des Burschen. „Setzen Sie sich, bitte und erklären Sie mir, was Sie zu mir führt.“ Henry ließ sich in seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch sinken und faltete die Hände auf dem Schreibtisch, während der andere ihm gegenüber Platz nahm. „Wie heißen Sie?“

Der Mann, der eigentlich fast noch ein Junge war, nahm seinen Hut ab und antwortete erst nach einigen Momenten. „Mein Name ist Leander Sandrian, Sir und ich bin hier, weil ich gerne an dieser Universität studieren würde“, erklärte er knapp.

Henry runzelte die Stirn. „Und wo liegt das Problem. Haben Sie den Aufnahmetest nicht bestanden?“ Leander Sandrian schnaubte ironisch. „Im Gegenteil, Sir. Ich habe als Bester bestanden, aber ich kann die Studiengebühren nicht aufbringen. Deshalb hat der Dekan beschlossen, dass mir die Chance verwehrt bleiben soll, Medizin zu studieren.“ Henry sah ihn betroffen an und nickte nach einigen Momenten. „Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind, aber ich denke nicht, dass ich Ihnen helfen kann.“

Er sah, wie die Hoffnung in Mr Sandrians Augen einer Leere wich, die Henry eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Er ballte die Hände zu Fäusten und starrte Henry direkt in die Augen. „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie sehr ich gekämpft habe, um überhaupt so weit zu kommen? Wissen Sie, wie es ist, wenn die eigene Zukunft schon aufgrund der Herkunft verbaut ist? Ich kann nichts anderes als Arzt werden. Ich weiß, dass ich dazu bestimmt bin, Menschen zu helfen. Hören Sie, Sir, ich habe das Leid der Menschen gesehen und ich möchte meinen Teil dazu beitragen, ihnen ihr Leben zu erleichtern.“ Henry fühlte sich zunehmend unwohl in der Gegenwart von diesem Mr Sandrian, weil er eigentlich der Meinung war, dass er recht hatte.

Er seufzte. „Ich mache Ihnen ein Angebot. Ich werde mit dem Dekan sprechen und Ihnen einen Teil der Studiengebühren erlassen, wenn Sie mir absolut perfekte Ergebnisse liefern. Ich erwarte von Ihnen höchste Konzentration, Ehrgeiz und Sie schulden mir einen Gefallen.“ Der junge Mann strahlte  und entblößte makellos weiße Zähne.

„Ich kann Ihnen gar nicht genug danken. Ich schwöre Ihnen, dass ich alles tun werde, um Ihren Anforderungen zu entsprechen, Sir. Ich werde Tag und Nacht lernen, wenn es sein muss.“ Henry war peinlich berührt, freute sich jedoch über die Reaktion. „Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich das Ganze nur so lange unterstütze, wie Sie Leistungen bringen, haben Sie das verstanden?“ „Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.“ Mr Sandrian stand auf und schüttelte Henrys Hand. „Wehe, Sie sagen noch einmal „Danke“. Tun Sie mir den Gefallen und machen Sie etwas aus der Chance, die ich Ihnen geschenkt habe.“

Mr Sandrian nickte und ihm fiel eine dunkle Strähne seiner wirren Haare in die Stirn. „Ich erwarte Sie nächste Woche Montag um neun Uhr dreißig in meiner Vorlesung.“ „Ich werde da sein, das verspreche ich.“ Henry wusste, dass er es ernst meinte. Er sah es den Menschen an den Augen an, wenn sie wirklich etwas lernen wollten. Und dieser junge Mann wollte es vielleicht mehr als alle anderen Studenten, die er je gehabt hatte. Henry dachte noch lange über ihn nach, selbst als er schon längst seines Weges gegangen war.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt