Kapitel 25

91 10 0
                                    

Der Freitag kam und mit ihm der Tag der Gerichtsverhandlung. Mr Sandrian und ich hatten vereinbart, dass die Praxis nicht geöffnet werden würde und dass wir uns am Gerichtssaal treffen würden.

Da der Trauermonat noch nicht vorüber war, zog ich seufzend mein bestes, schwarzes Kleid an. Wehmut überkam mich so plötzlich, dass ich mich zurück auf mein Bett setzte. Ich wünschte mir so sehr, dass mein Vater bei mir war, dass ich kaum atmen konnte. Immer wieder übermannte mich meine Trauer und ich war immer froh, wenn ich dem Haus entkommen konnte und ich so Ablenkung fand.

Hinzu kam das Problem meiner Mutter. Seit sie hier war, hatte sich mein Leben eindeutig erschwert. Jeden Abend musste ich mir Geschichten ausdenken, warum ich erst Stunden nach Vorlesungsschluss nach Hause kam und ich wusste, dass sie langsam misstrauisch wurde. Mein ganzes Gerüst war wackelig und drohte jeden Moment einzustürzen.

Ich seufzte und machte mich fertig. Die Haare band ich mir zu einem straffen Knoten am Hinterkopf zusammen und trug ein wenig Rouge und Mascara auf. Nachdem ich mit meiner Erscheinung zufrieden war, versuchte ich, mein Spiegelbild anzulächeln, was in einer Grimasse endete und schüttelte dann den Kopf.

Schnippisch wandte ich mich ab und verließ mein Zimmer.


Die Zeit, bis ich zum Gericht aufbrechen wollte, verbrachte ich mit Lesen im Salon. Ich ignorierte gekonnt die missbilligenden Geräusche meiner Mutter, wenn sie mich betrachtete.

Meine Augen flogen über die ersten Zeilen des Buches Robinson Crueso.

Schon in meiner frühen Jugend steckte mir der Kopf voll von Plänen zu einem umherschweifenden Leben. Mein bereits bejahrter Vater hatte mich so viel lernen lassen, als durch die Erziehung im Hause und den Besuch einer Freischule auf dem Lande möglich ist. Ich war für das Studium der Rechtsgelehrsamkeit bestimmt. Kein anderer Gedanke aber in Bezug auf meinen künftigen Beruf wollte mir behagen als der, Seemann zu...

„Ts ts ts." Ich atmete angestrengt aus, um meine Mutter nicht anzufahren, schaute stattdessen auf und warf ihr einen vernichtenden Blick zu, bevor ich mich wieder meinem Buch zuwandte.

„Raven, also ich finde, du könntest dieses elende Buch auch mal weglegen. Du tust ja nichts anderes, als zu lesen."

Ich biss die Zähne aufeinander, zwang mich zu lächeln und sagte zuckersüß: „Ich lese nicht einmal seit fünf Minuten, Mutter und ich würde es sehr begrüßen, wenn ich dabei Ruhe hätte."

Unzufrieden wandte sie sich wieder ihrer Stickarbeit zu.

Um elf Uhr verabschiedete ich mich und floh, bevor sie mich fragen konnte, wo ich hingehen würde. Die Kutsche erwartete mich bereits und Mr Podmore verneigte sich vor mir und reichte mir dann seine behandschuhte Hand. Ich stieg ein und wartete auf das Schnalzen der Peitsche und das Anfahren der Kutsche.

Das alte Gerichtsgebäude des Old Baily erreichten wir gegen halb zwölf und auch wenn ich zu früh war, sah ich Mr Sandrian, Arianna und Mr Jenkins schon warten.

Der Rechtsanwalt sah mich kommen, lächelte und hob meine Hand an seine Lippen. „Miss Silver. Es ist mir eine Freude, Sie hier heute anzutreffen. Ich muss Ihnen wirklich sagen, dass Ihre Anwesenheit mir meinen Tag um ein Vielfaches versüßt."

Die Röte schoss mir in die Wangen und ich entzog ihm meine Hand. Ich sah, dass Mr Sandrian sich ein hämisches Grinsen kaum verkneifen konnte und schämte mich um so mehr.

„Wir sollten reingehen", sagte Mr Jenkins unbeschwert und die beiden Männer gingen voran. Arianna und ich folgten ihnen auf dem Fuß und wir ließen uns von dem Rechtsanwalt zum Gerichtssaal führen.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt