Kapitel 29

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Mein Atem stockte, als ich zum ersten Mal alleine in der Praxis stand. Leander hatte mir die Schlüssel hinterlassen und ich empfand es als sehr seltsam, dass er nicht da war. Das morgendliche Ritual fehlte einfach.

Für einen Moment grinste ich jedoch, als ich mich hinter seinen Schreibtisch setzte. Ich war nun mein eigener Herr, zumindest für vier Wochen. Alle Entscheidungen lagen nun bei mir, was mir zwar nicht so ganz geheuer war, aber mich trotzdem zufrieden stimmte.

Allerdings schwand meine Euphorie, als die ersten Patienten die Praxis belagerten und mich skeptisch beäugten. „Wo ist Mr Sandrian?", fragte ein Griesgram, der mir schon mal Probleme gemacht hatte. „Er musste für einige Wochen fort. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich vertrete ihn so lange." „Ich will Sie aber nicht. Frauen, die Medizin betreiben, können nicht gut sein."

Ich musste schnell feststellen, dass es vielen an Respekt und Höflichkeit mangelte und ich Probleme hatte, mich gegenüber männlichen Patienten durchzusetzen. Es brüskierte mich, dass einige anzügliche Bemerkungen machten und mir hinterher pfiffen.

Ohne den Schutz von Leander war ich beinahe machtlos, doch ich war entschlossen, mich nicht beirren zu lassen. Was mir an Männlichkeit und Stärke fehlte, würde ich durch Cleverness und Selbstbewusstsein ausgleichen.

„Der Nächste bitte", sagte ich ungeduldig, nachdem ich einen Burschen, nicht älter als zwölf, den Arm gerichtet hatte, dessen Knochen aus dem Arm geragt hatte. Eine junge Frau kam herein und ich sah sofort, dass ihr übel mitgespielt worden war. Ich schloss die Tür und betrachtete sie mitleidig.

„Wer hat Ihnen das angetan?" Völlig verängstigt zitterte sie. „Wer war das?", fragte ich mit mehr Nachdruck, während ich ihr sanft die Wunden in Gesicht und am Auge reinigte. „Mein Mann", stammelte sie und ich seufzte.

„Haben Sie sonst noch irgendwo Schmerzen?" Es war eine unnötige Frage. Natürlich hatte sie das. „Ich, ich glaube, ich habe mein Kind verloren." Tränen rannen nun ungehindert aus ihren Augen. „Ich war schwanger, aber nachdem Vorfall hatte ich unerträgliche Schmerzen und habe geblutet", erzählte sie mir schluchzend. „Wir werden das untersuchen", sagte ich ruhig, obwohl ich schockiert war, mit welcher rohen Gewalt man dieses Mädchen zugerichtet hatte.

Es stellte sich heraus, dass sie recht hatte. Das Kind war tot und da war nichts, das wir noch tun konnten. „Es tut mir sehr leid", sagte ich und nahm sie in den Arm. Sie zitterte am ganzen Leib und schluchzte unaufhörlich.

Nach etlichen Minuten war mein Kleid völlig durchnässt und auch ich mit den Nerven am Ende. „Er wird mich dafür verantwortlich machen", wisperte sie und mir lief es kalt den Rücken hinunter. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen irgendwie helfen, aber selbst die Obrigkeit würde vermutlich nichts tun, da er Ihr Mann ist."

Es tat mir leid, aber ich musste sie gehen lassen. Es lag nicht in meiner Macht, ihr in irgendeiner Weise zu helfen. Das einzige, was ich tun konnte, war, ihr Schmerzmittel zu geben, die ihre Qualen erträglicher machen würden und etwas, das sie die Angst vergessen ließ.

Völlig erschüttert blieb ich zurück und wünschte mir, ich hätte mehr tun können. Ich seufzte und gönnte mir einen Moment Pause und sah mich erschöpft um. Leander fehlte in jeder Sekunde und der Raum wirkte seltsam leer ohne ihn. Er hätte sicherlich gewusst, was zu tun war.

Ich legte den Kopf auf den Tisch und suhlte mich in Selbstmitleid. Vielleicht sollte ich Mary bitten, mir in den nächsten Wochen auszuhelfen. Aber das konnte ich nicht tun. In drei Wochen würde ihre Hochzeit stattfinden und sie steckte bestimmt bis in beide Ohren in den Vorbereitungen.

Ein Lächeln erschien auf meinen Lippen, als ich daran dachte, dass sie durch Ian dann wirklich zur Familie gehören würde und noch ein neuer Gedanke hellte meine Laune auf.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt