Kapitel 42

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Sicht: Isabelle Marino

„Glück. Es war pures Glück“, fauchte ich ihn an, doch das Grinsen wollte einfach nicht von seinen Lippen weichen. Mir war nach Heulen zu Mute. „Die hätten dich hinrichten können, du verdammter Idiot. Hör endlich auf zu grinsen.“

Heiße Tränen fielen auf den Boden der winzigen, verschmutzten Kajüte, in der man uns einquartiert hatte. Erst jetzt wich sein Lächeln einem besorgten Ausdruck und er zog mich in eine Umarmung. „Das haben sie aber nicht. Keine Angst. Alles wird gut. Wir haben es geschafft.“

Ich schluchzte bitterlich und durchweichte sein Hemd. „Ich dachte, ich würde dich verlieren. Du hast keine Ahnung, was für Ängste ich durchgestanden habe.“ „Doch, das habe ich. Verzeih mir dafür. Bitte.“ „Idiot“, murmelte ich erneut, doch er lachte nur leise, während wir eng umschlungen einfach nur da standen.

Ich konnte ihn nicht loslassen, musste mich vergewissern, dass er wirklich noch lebte, dass er mir nicht entrissen werden würde. Es war der schrecklichste Gedanke gewesen, den ich je gehabt hatte. „Ich liebe dich, Isabelle. Ich liebe dich wirklich.“

Seine Arme hielten mich fest, drückten mich an ihn und ich sog seinen Geruch nach Sandelholz gierig ein, als könnte es das letzte Mal sein, das ich ihn so nah bei mir hatte. „Alles wird gut. Wir haben es geschafft“, wiederholte er immer und immer wieder.

Die zu Tode erschöpften Kinder schliefen bereits, die St. Lewis hatte vor einer halben Stunde abgelegt und ich konnte nicht anders, als langsam zu hoffen, dass er vielleicht recht haben könnte. Ich ließ meinen Kopf an seiner Schulter ruhen und sagte für eine ganze Weile gar nichts.
Irgendwann beschlossen wir, zu Bett zu gehen.

Der Seegang war stärker als ich gehofft hatte, doch zum Glück war ich relativ unempfindlich in dieser Hinsicht. Es war beruhigend, Leandros ruhigen Atem zu spüren und zu wissen, dass niemand ihn mir wegnehmen würde. Entgegen meiner Überzeugung, schickte ich ein dankendes Stoßgebet an Gott. Sollte ein solches Wesen tatsächlich existieren, dann hatte es heute seine Hand über uns gehalten.

Das Schaukeln des riesigen Schiffes ließ mich irgendwann eindämmern. Meine Träume waren von Angst und Schrecken durchsetzt. Ich träumte von Lees Hinrichtung, davon dass seine Kinder ins Heim kamen oder Schlimmeres. Der Anblick seines toten Körpers, der an einem Strick baumelte, ließ mich keuchend auffahren und im nächsten Moment wurde ich von einem zitternden Schluchzen geplagt.

Leandro setzte sich auf, nahm mich in den Arm und flüsterte: „Es war nur ein Traum. Keine Angst, es ist vorbei.“ Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte und wieder schlafen konnte. Zu schrecklich war die Vorstellung, ihn zu verlieren.

Der Morgen kam und mit ihm die Erleichterung, aufstehen zu können, um zu arbeiten. Man schickte einen Matrosen, der uns zeigte, wo sich das Behandlungszimmer befand.

Übernächtigt und erschöpft schauten wir uns um, doch mit jeder Minute fühlte ich mich wieder lebendiger.
Es gab ein Bullauge, das die Aussicht auf das raue Wasser freigab und ich atmete tief den vertrauten Geruch ein. „Ihr fangt um sechs Uhr morgens an und hört abends um acht wieder auf, habt ihr das verstanden?“, fragte der Matrose ungeduldig.

Wir nickten und er ließ uns allein. Da wir noch ein wenig Zeit hatten, holten wir die Kinder und schauten uns an Deck um. Es war eisig kalt und zugig, doch die Sonne ging bereits am Horizont auf und ein befreiendes Gefühl machte sich in meiner Brust breit. Die Gischt schäumte hoch am Bug und die Zwillinge lehnten sich über die Reling.

„Schau mal, Dad.“ Leandro stellte sich neben seinen Sohn, der begeistert die Arme ausstreckte. Der scharfe Wind wehte den beiden die dunklen Haare aus dem Gesicht und ich lächelte über den Anblick. Ich trat neben Lee, der einen Arm um mich schlang und ich nahm Anni bei der Hand. Zu viert schauten wir still aufs Wasser und ich fühlte mich beinahe wie eine Familie.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt