Kapitel 11

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Sicht: Raven Silver

Mein Gott, das war schrecklich gewesen. Ich hatte an diesem Tag Dinge gehört, die ich niemals hatte hören wollen. Dieses Mädchen, Arianna, ihr war Gewalt angetan worden und Mr Sandrian stand ihr ganz offensichtlich sehr nahe. Nach ihrem Aussehen zu schließen, musste sie seine Schwester sein oder vielleicht eine Cousine. Außerdem hatte sie ihn beim Vornamen genannt. Leander.

Arianna tat mir unglaublich leid. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich sie sich fühlen musste und auch Mr Sandrian tat mir leid. Ich hatte ihn noch nie so kopflos erlebt, noch nie so emotional. Seine sonst so allgegenwertige Selbstbeherrschung war völlig verschwunden gewesen und zurückgeblieben war ein hart getroffener und verunsicherter Mann, der nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte.

Es war ein Glück, dass ich in Krisensituationen einen kühlen Kopf bewahren konnte. Natürlich war mir klar, dass ich mit dem Feuer spielte, wenn wir diesen Peter Jones tatsächlich anzeigten. Der Fall würde öffentlich gemacht und unter diesen Folgen würde Arianna nur noch mehr leiden. Also mussten wir dieses Problem irgendwie umgehen. Ich würde mich mit Mr Sandrian unterhalten müssen, doch zuvor hatte ich eine drängendere Aufgabe.

Ich war auf dem Weg nach Hause. Denn bevor ich zu Mr Jenkins aufbrechen konnte, musste ich mich dringend umziehen. Niemand durfte erfahren, dass ich arbeiten ging und in meinem derzeitigen Aufzug konnte ich mich nicht bei ihm sehen lassen.
Außerdem ließ ich mir von Rose Mr Jenkins Adresse nennen. Sie war überrascht und ich erklärte ihr nur grob, was geschehen war. Dann zog ich mich um und ließ die Kutsche vorfahren.

Ich sagte Mr Podmore, wo er hinfahren sollte und zerdachte alles, was geschehen war auf dem Weg. Wie konnte ich Mr Jenkins um Hilfe bitten, ohne ihm zu sagen, was in Wirklichkeit geschehen war. Ich wollte  mich schließlich vorher noch mit dem Arzt und seiner Schwester beraten.

Eine kurze Zeit später hielt die Kutsche vor einem großzügigen Haus und ich stieg aus. Dann klingelte ich an der Tür, die mir auch beinahe sofort geöffnet wurde. Ein Butler in schicker Livree und einem höflichen Gesichtsausdruck stand mir gegenüber. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“, näselte er. „Ist Mr Jenkins im Haus? Ich habe dringende Dinge mit ihm zu besprechen“, erwiderte ich höflich. „Ich bedaure, aber Mr Jenkins ist außer Haus. Soll ich ihm etwas ausrichten oder wollen Sie warten? Er sollte in einer halben Stunde zuhause sein.“ Ich nickte lächelnd. „Ich werde warten, danke.“

Der Butler trat zur Seite und nahm mir den Mantel ab. „Hier lang bitte, Miss…“ „Silver“, half ich ihm aus.
Er führte mich in einen großen Salon. „Wünschen Sie einen Tee?“ „Ja, bitte“, bestätigte ich, beeindruckt von der Pracht um mich herum. Der Boden war aus wunderschönem Parkett und mit rotem Samt bezogene Sessel standen um einen großen Kamin herum. Prachtvolle Gemälde hingen an den Wänden und Spiegel waren überall aufgehängt. Sie erinnerten mich an den Spiegelsaal in Schloss Versailles. „Umwerfend“, hauchte ich, da ich dachte, ich wäre allein.

„Nicht wahr?“, fragte eine belustigte Stimme und eine schmächtige Frau, etwas älter als ich selbst, stand aus einem der Sessel auf. Eilig knickste ich. „Verzeihen Sie bitte, ich wusste nicht, dass Sie hier sind“, entschuldigte ich mich schnell. Sie lächelte. „Ich vergebe Ihnen, Miss Silver“, lächelte die Frau. Erstaunt schaute ich sie an. „Woher kennen Sie meinen Namen?“ „Mein Bruder Kurt hat mir von Ihnen erzählt. Übrigens, mein Name ist Laura Jenkins.“ Ich ergriff die Hand. „Sehr erfreut.“

Sie bot mir an, mich zu setzen und ich freute mich darauf, diese Sessel auszuprobieren. Sie waren noch bequemer als sie aussahen. Ich seufzte wohlig und entlockte ihr ein helles Lachen. „Sie sind in letzter Zeit offensichtlich nicht oft in den Genuss eines guten Sessels gekommen!“ Es war nicht als Frage formuliert und doch nickte ich. „Allerdings nicht. Es tut wirklich gut, ein wenig auszuruhen.“ Sie hob die Augenbrauen. „Sie studieren, nicht wahr?“ Ich lächelte. „Ja, ich habe es mir vorgenommen, möglichst viel Wissen zu sammeln und ein wenig klüger zu sterben als ich geboren wurde.“ Sie grinste mich spöttisch an. „Das klingt ja sehr ideell.“

Ich war überrascht, wie leicht es war, mit Miss Jenkins zu sprechen. „Nun ja, ich denke, dass es durchaus wichtig ist, dass Frauen ihre Meinung kundtun und auch etwas zur Gesellschaft beitragen.“ „Da haben Sie durchaus recht, aber ich halte das zu dieser Zeit nicht für umsetzbar. Ich lebe nach dem Motto, mich nicht mit etwas zu belasten, das ich ohnehin nicht ändern kann. Denn wenn man nie Erfolg hat, zerbricht man an der Last, die man sich selbst aufgebürdet hat.“ „Verzeihen Sie mir diesen Einwand, aber das klingt nach Bitterkeit und Enttäuschung.“ Sie erwiderte meinen forschenden Blick ernst.

„Miss Silver, bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber ich denke, dass Sie aus einer sehr viel unkonventionelleren Familie stammen, als ich es tue. In den wenigen Minuten, die wir uns kennen, habe ich genug von Ihnen gelernt, um zu wissen, dass Sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich halte das für sehr interessant und Sie für klug, aber in diesem Haus verhält es sich leider ein wenig anders“, seufzte sie schwer und musterte mich.

„Sie haben recht, Miss Jenkins.“ Sie nickte. „Ich gebe Ihnen einen Tipp für die Zukunft, Miss Silver. Seien Sie vorsichtig mit Ihren Äußerungen bei Leuten, die nicht so aufgeschlossen sind wie Sie selbst. Es könnte Ihnen schaden.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Das ist nett gemeint von Ihnen, aber ich vertrete die Meinung, dass die größte Freiheit, die wir haben, unsere eigene Meinung ist und ich werde mir ganz sicher von niemandem den Mund verbieten lassen“, sagte ich ganz klar, was ich dachte.

Bevor Miss Jenkins mir antworten konnte und ich sah, dass sie verstimmt war, wurde die Tür schwungvoll aufgezogen und Mr Jenkins trat ein. Ich stand auf und knickste aus Höflichkeit, während er überrascht den Kopf neigte. „Miss Silver, was für eine Überraschung. Wie komme ich zu der Ehre?“ „Die Situation ist ein wenig heikel, Sir.“ Er nickte. „Folgen Sie mir bitte“, meinte er ernst und hielt mir die Tür auf.
„Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, Miss Jenkins“, verabschiedete ich mich lächelnd von seiner Schwester. „Diesen Gruß kann ich nur zurückgeben.“

Ich nickte ihr zu und folgte Mr Jenkins in sein Büro. Er rückte mir einen Stuhl zurecht und setzte sich selbst hinter seinen Schreibtisch. Das Büro war sehr edel eingerichtet wie eigentlich alles, das ich bis jetzt von diesem Haus gesehen hatte.

„Nun, wie kann ich Ihnen helfen?“ Ich seufzte leise. „Erinnern Sie sich an unser letztes Gespräch, in Folge dessen ich Ihnen versicherte, mich an Sie zu wenden, sollte ich je juristische Unterstützung benötigen?“ Er hob überrascht und interessiert die Augenbrauen. „Jawohl, Miss Silver, doch ich bin erstaunt, dass Sie sich in einer solchen Lage befinden.“ „Nun ja, eigentlich bin nicht ich es, die rechtlichen Beistand benötigt“, druckste ich herum.

„Sie machen es sehr spannend. Bitte erzählen Sie mir einfach, was geschehen ist und wer meine Hilfe benötigt“, forderte er mich freundlich auf. „Es geht um eine Bekannte von mir. Ich habe selber leider noch keine Ahnung, was genau passiert ist, dafür werden Sie wohl selbst mit ihr sprechen müssen, aber ihr Bruder meinte, es sei wohl sehr ernst und er bat mich, ihnen zu helfen.“ Das war natürlich gelogen, aber so kam ich darum herum, ihm die ganze Geschichte erzählen zu müssen, ohne mich vorher mit Mr Sandrian abgestimmt zu haben.

„Das klingt ja überaus abenteuerlich für eine junge Frau“, bemerkte Mr Jenkins und ich verkrampfte die Hände in meinem Schoß. Dachte er wirklich, Frauen hätten weniger Mut als Männer?

„Ja, da haben Sie recht.“ Ich hatte diese Worte nur hervorgewürgt, um Arianna zu helfen, aber es war mir so schwer gefallen, dass ich kurzzeitig gedacht hatte, an ihnen zu ersticken. Ich hasste es einfach, in Gegenwart von Männern das kleine, naive Mädchen zu spielen, dass nicht ohne den Beistand eines Mannes an ihrer Seite überleben konnte. „Werden Sie uns helfen?“ Ich sah, dass er kurz zögerte.

„Unter einer Bedingung, Miss Silver…“ Ich blickte ihn erwartungsvoll an und fragte mich, was er von mir wollen könnte. „Wenn ich Ihnen und Ihrer Bekannten helfen soll, darf ich Sie zu einem Dinner ausführen“, stellte er seine Forderung und ich stöhnte innerlich. Das war eine ziemliche Zwickmühle. Natürlich wollte ich Arianna helfen, aber diesen schmierigen Kerl einen ganzen Abend zu zweit zu ertragen, würde mich starke Nerven kosten. „Das ist in Ordnung, Mr Jenkins.“ Er lächelte. „Dann freut es mich, Ihnen und Ihrer Freundin behilflich zu sein.“

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