Primrue Mellark 2 | Kapitel 12

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Ich erwachte erst am Morgen wieder. Die Nacht war ohne weitere Alpträume verlaufen, trotzdem hing der, den ich hatte, mir noch sehr nach. Ich wollte nicht aufstehen. Wenn ich es tat, würde ich bald im Kapitol ankommen. Dann müsste ich mich wieder den ganzen Menschen stellen aber ich fühlte mich nicht bereit dazu. 
„Primrue, bist du wach?“ Catos Stimme über mir, war nicht mehr als ein flüstern. Immer noch lag ich in seinen Armen. Meinen Kopf auf seiner Brust gebetet. Keiner von uns hatte sich von dem anderen im Schlaf wegbewegt. Im Gegenteil. Mein Bein lag mittlerweile über seinen und mein Arm hielt ihn ebenfalls umschlungen. Da ich ein Feigling war und nicht aufstehen wollte, tat ich so, als würde ich noch schlafen. Natürlich kam ich damit nicht weit bei meinen ehemaligen Mentor.
„Ich weiß das du wach bist. Deine Atmung ist unregelmäßig geworden.“ 
Musste er denn auch alles mitbekommen?
„Ich will nicht aufstehen.“, beschwerte ich mich leise und klammerte mich noch fester an ihn. „Können wir nicht einfach hier liegen bleiben?“
„Können schon aber Effie wird jeden Moment hier herein gestürmt kommen, um dich zu wecken. Willst du ihr dann erklären warum ich hier bin oder soll ich? Ich bin mir aber nicht sicher ob ich es noch vor ihrem Herzinfarkt schaffe.“ 
Auch wenn es lustig klang, ich konnte mir denken, dass Effie wohl eher zu einen feuerspuckenden Drachen werden würde, als das sie einen Herzinfarkt erlitt. Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass es schon fast zu viel für sie war, als er im Zimmer meiner Mutter übernachtet hatte, als sie auf der Siegestour waren, um sie von ihren eigenen Alpträumen abzuhalten. Wenn das schon zu viel für sie war, was würde sie dann erst von mir und meinem Mentor denken?

Ich schubste Cato so stark und plötzlich von mir, dass er neben dem Bett aufschlug. Mit hochroten Kopf krabbelte ich an die Kante meines Bettes und lugte vorsichtig darüber hinaus.
„Das ist also dein Dank dafür, dass ich mitten in der Nacht hier rüber komme und mir von dir die Decke klauen lasse?“, knurrte er beleidigt.
„Tut mir Leid. Wirklich“, versuchte ich mich zu entschuldigen. 
Cato wollte gerade etwas erwidern, als in dem Moment die Tür aufflog und eine, für diese Uhrzeit, viel zu glückliche Effie ins Zimmer marschierte. 
Nicht zu lachen, als ihre Gesichtszüge entglitten, war fast eine unlösbare Herausforderung aber irgendwie brachte ich es zustande. Weniger hilfreich war das Kreischen, was wenige Sekunden nach der Gesichtsgymnastik einsetzte. 
Ich schlug mir die Hände vor die Ohren und auch Cato schaute schmerzverzerrt zu Effie. Irgendwann begann sie in gleicher Stimmlage und Lautstärke herumzuschreien. Viel bekam ich von dem Gequitsche nicht mit. Nur Wortfetzen wie „Manieren“ und „Wenn deine Eltern“. Zumindest sah es nicht nach einem Herzinfarkt aus, was doch immerhin schon einmal beruhigen war. Cato erbarmte sich und ging nach ein paar Minuten, Effie ignorierend, in sein Zimmer. Es funktionierte und die Furie folgte ihn, da er anscheinend, in ihren Augen, den größeren Anteil an ihrem Geschrei hatte. 
Am liebsten hätte ich mich in die Decke zurück gekuschelt aber irgendwie war ich dazu nicht mehr in der Lage. Mit Catos verschwinden kam auch die Unruhe wieder zurück und sie wurde stärker, um so näher wir dem Kapitol kamen. Ich warf mich mehrmals hin und her, konnte aber keine bequeme Stellung finden. Frustriert kletterte ich wenige Minuten später aus dem Bett und griff nach den erstbesten Sachen, die mir im Schrank entgegen kamen. Ein beiges, ärmelloses Top, eine braune weite Hose und eine dunkelrote Bluse waren meine ausbeute. Zufrieden damit zog ich sie an und ging, zerzaust wie ich noch war, in Richtung des Abteils, in dem ich hoffte Frühstück zu finden. Effie konnte ich immer noch gedämpft durch die Tür zu Catos Zimmer hören und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Immerhin war er nur bei mir gewesen, weil ich mich in der Nacht wieder einmal wie ein Kleinkind aufgeführt hatte. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht wütend auf mich war, weil ich ihm nicht half. Ich hatte keinen wirklichen Elan dazu und er konnte von uns beiden besser mit Effie umgehen... zumindest konnte er sie besser ignorieren.
Schlürfend kämpfte ich mich weiter und wurde auch mit reichlich Frühstück belohnt. Zwar hatte ich immer noch keinen wirklichen Appetit aber mir war bewusst, dass es im Kapitol nicht besser werden würde. Hier im Zug war ich immerhin noch in so was wie einer neutralen Zone.
Ohne groß darüber nachzudenken griff ich nach einem paar Brötchen, etwas Obst und Marmelade. 
Gerade als ich genüsslich in eine Hälfte hinein beißen wollte, und darauf hoffte, dass sich dabei Hunger einstellte, kreischte es hinter mir schon wieder. 
Vor Schreck ließ ich mein essen los, welches mit einen lauten „platsch“ wieder auf dem Teller landete. Entnervt drehte ich mich herum, um Effie anzusehen, die blass wie eine Wand mit offenen Mund auf mich starrte.
„Was?“,knurrte ich sie an.
„Wie siehst du denn aus?“, brachte sie nur hervor. So wie es bei ihr klang, schien ich auszusehen wie der Tod persönlich. 
„So wie man eben aussieht, wenn man früh aus dem Bett gekreischt wird.“, kommentierte ich wütend. Gerade als ich mich wieder umdrehen wollte, hielt Effie mich jedoch am Arm fest.
„Du siehst eher wie jemand aus, der die ganze Nacht nicht geschlafen hat. Was habt ihr da getrieben junge Dame, mmh?“ Effies entsetztes Gesicht war einfach zu lustig anzusehen. Ich konnte nicht anders als anfangen zu lachen, was sie natürlich nur wieder auf die Palme brachte. Ihre Stimme ging wieder in Höhen, in denen wahrscheinlich nur ein Hund verstanden hätte, was sie sagte. 
Cato betrat das Abteil wenige Minuten später. Effie war immer noch nicht fertig, wodurch er genervt die Augen verdrehte. 
„Eigentlich hatte ich es doch gerade erst abgestellt.“, beschwerte er sich. Die Stimme meines ehemaligen Mentors war kaum über das Kreischen zu hören.
„Entschuldige.“, brachte ich leise heraus und verkniff mir einen weiteren Lachanfall. Gleichzeitig, mit Catos Anwesenheit, kam aber auch die Verwirrung wieder. 
Was führten sich alle so auf? Dachte Effie wirklich Cato und ich hätten...? Würde er mit mir...?
Ich schielte zu ihm rüber. Cato stand gerade mit dem Rücken zu mir und lud sich selber etwas auf einen Teller. Unter dem dünnen Shirt konnte ich sehen wie seine Muskeln sich bei jeder Bewegung anspannten. Er war groß, er war gutaussehend und da draußen waren wahrscheinlich hunderte von Frauen, die gerne näher bei ihm wären und ihn als ihr Eigen bezeichnen wollten. Hunderte von Frauen, die wahrscheinlich alle Älter, Reifer und gutaussehender waren als ich. Nicht zu schweigen von meiner Neigung zu ab und zu auftauchenden Heulanfällen, die einen die ganze Nacht wachhalten konnten. Ich war sicher der Traum aller Männer... 
Als Cato sich umdrehte und zum Tisch kam, schaute ich schnell weg. Ich spürte wie röte wieder einmal in meine Wangen schoss und war froh um meine langen Haare, die es verbargen. Unsicherheit hatte ich schon immer gehasst. Besonders wenn ich nicht wusste, was andere dachten. Hätte mir jemand mal gesagt, dass mir das offen vorgetragene Misstrauen von Früher im Distrikt fehlen würde, ich wäre wahrscheinlich auf die Person losgegangen. Aber immerhin wusste ich damals, woran ich bei den Menschen war. Ich musste keine Erwartungen erfühlen. Hatte niemanden der auf mich zählte und gleichzeitig so sehr verwirrte wie Cato. Natürlich mochte ich ihn. Er hatte mir in der schwersten Zeit meines Lebens geholfen. Hatte die Scherben, aus denen ich bestanden hatte, zusammengehalten, bis ich die Kraft hatte, sie zumindest provisorisch zu kitten. Er war dagewesen, als ich unfreiwillig in nur wenigen Tagen erwachsen werden musste. Als ich versagt hatte...
War es da nicht normal, dass er mir etwas bedeutete? Wahrscheinlich lag es auf einmal an den ganzen Veränderungen, die diese Verwirrung über meine Gefühle hervorriefen. 
Ich bildete mir etwas ein, um meine Sorgen und Ängste vor dem Kapitol zu verdrängen. Schließlich würde Cato niemals mehr in mir sehen, als...
„Da iss.“, unterbrach er meine Gedanken. Ich konnte gerade noch rechtzeitig meinen Mund aufmachen, bevor er mir auch schon die Hälfte eines Brötchens hineinschob. 
...eine kleine Schwester.
Der Gedanke schmerzte aber ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Gott sei Dank hatte sich Effie mittlerweile wieder beruhigt, wodurch ich ihr meine ganze Aufmerksamkeit schenken konnte. 
Sie ließ einen der Diener eine Bürste bringen und befahl mir, zumindest meine Haare in Ordnung zu bringen.
„Schließlich sollen sie nicht denken, du bist in den vier Monaten zu einer Wilden verkommen.“, kommentierte sie schnippisch. Des Frieden willens kam ich ihrer Aufforderung nach und verbrachte die nächsten Minuten damit, mein Haar zu entwirren. In den letzten vier Monaten war es ebenfalls noch einmal ein wenig gewachsen. Meistens fiel es mir in leichten Wellen über die Schultern und Rücken. Ich bevorzugte es offen aber Effie reichte mir ein Haarband.
„Bind es zusammen. Damit wirkst du jünger und unschuldiger. Wenn die Stylisten mit dir fertig sind, wirkt es dann auch nur um so besser. Schließlich sollst du bei dem heutigen Ball der Star sein.“
Das waren zu viele Neuigkeiten in einem Satz. 
„Stylisten? Star?“, stammelte ich, während meine Hand mit der Bürste langsam nach unten glitt. Effie nahm sie mir ab und begann selber weiter zu kämmen. Während sie meine Haare in einen Zopf flocht erklärte sie: „Ja natürlich. Ihr steht ab jetzt in der Öffentlichkeit. Deswegen bekommt ihr natürlich Stylisten an eure Seite. Und jeder im Kapitol will doch wissen was aus diesen tapferen jungen Mädchen geworden ist, welches so rebellisch den Präsidenten die Stirn geboten hatte.“ 
Ich fühlte mich nicht wohl bei der ganzen Sache und meine Ängste wurden auch nicht weniger, als ich außerhalb der Fenster, das Kapitol erblickte.
„Oh wir sind gleich da.“, freute Effie sich hinter mir und stolzierte aus dem Abteil. Wahrscheinlich um sich selber auf den großen Auftritt vorzubereiten.
„Vergiss nicht zu atmen Primrue.“, empfahl mir Cato leise. Fast schmerzhaft zog ich Luft in meine Lungen und versuchte nicht ohnmächtig zu werden. Was war nur mit mir los? Wurde ich jetzt schon nur beim Anblick von ein paar Stadtmauern hysterisch?
„Komm. Lass uns zum Ausgang gehen.“ Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass Cato aufgestanden und neben mich getreten war. Doch da war er nun. Er nahm meine Hand und ich umgriff seine Finger schmerzhaft.
Immerhin er war da. Gemeinsam konnten wir das schaffen. 
„Auf in den Kampf“, schmunzelte Cato. Ich wusste, dass er mich aufmuntern wollte. Dummerweise fühlte es sich wirklich so an, als würde ich in einen weiteren Kampf ziehen müssen.

Primrue Mellark 2 | Ungewolltes SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt