Kapitel 10

57 14 7
                                    

"Hast du eine Ahnung, wer dir das zugesteckt haben könnte?"
Gwendolyn starrte ratlos auf das Stück Papier, welches sie gerade eben in Freds Jackentasche entdeckt hatte.

"Klar. Das kann eigentlich nur Oskar gewesen sein."
"Bist du dir sicher?"
"Ziemlich. Wäre ja nicht das erste Mal, dass er so eine komische Aktion bringt."
"Stimmt, da muss ich dir Recht geben."

Tatsächlich war es in der Vergangenheit schon öfter vorgekommen, dass Oskar sich derartige Späße erlaubt hatte.
Meistens hatte er Fred -wie auch heute- diverse Zettel zugesteckt, auf denen entweder gefälschte Liebeserklärungen oder Morddrohungen geschrieben standen.
Fred hatte die Botschaften meistens schon in der Uni entdeckt und sie jedes Mal genervt in den Müll geworfen.

Nach einer Weile hatte Oskar scheinbar begriffen, dass diese Art von Witzen nicht lustig war. Somit hatte er das Zettel schreiben aufgegeben.
Nun musste er es wohl wieder für sich entdeckt haben.

"Wenigstens hat er sich mal was Neues einfallen lassen", bemerkte Fred.
"Und, was ist? Willst du dir nicht ansehen, was das für ein Link ist?"
Gwendolyn stand die Neugier förmlich ins Gesicht geschrieben.
"Wird wohl irgendeine unseriöse Pornoseite sein."

Fred und Gwendolyn setzten sich ins Wohnzimmer und schalteten den Laptop ein, um sich dessen zu vergewissern.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Computer endlich hochgefahren war.
Fred öffnete den Browser und tippte den Hyperlink in die Suchleiste ein.

"https://www.amore.de/categories/xp4c%07qaB%y"

"Klingt wirklich nach einer Pornowebsite", stellte Gwendolyn enttäuscht fest.
"Sag ich ja. Oskar ist einfach viel zu leicht zu durchschauen."

Nachdem Fred den Link komplett abgetippt hatte, drückte er die Entertaste und wartete geduldig ab, bis die Seite vollständig geladen war.
Lange Zeit war bloß ein weißer Bildschirm zu sehen, doch langsam poppten einige Bilder auf, die Frauenkleider, Accessoires und Schminke zeigten.

"Eine Shoppingseite? Das ist so ziemlich das letzte, womit ich gerechnet habe", sagte Gwendolyn.
"Vielleicht will Oskar uns damit etwas sagen."
"Hast du eine Vermutung?"
"Er hat offensichtlich eine Vorliebe für Frauenkleidung entwickelt. Wie es aussieht, ist der Gute unter die Transgender gegangen. Das ist im 21. Jahrhundert absolut nichts Verwerfliches, aber wie wird Charlotta darauf reagieren?"
"Sehr realistische Theorie."
"Da staunst du, was?"
"Ja, deine Fantasie ist wirklich bewundernswert."
"Wieso Fantasie? Du hast mich nach meiner Vermutung gefragt und das ist sie."

Gwendolyn wusste, dass es sowieso keinen Zweck hatte, mit Fred über Dinge zu diskutieren, die er bereits für sich entschieden hatte.
"Die Klamotten, die es hier gibt, sind aber echt schön", sagte sie, um auf ein anderes Thema zu kommen.

Fred sah sich die einzelnen Bilder eindringlich an.
"Hast Recht. Das Kleid würde an dir bestimmt super aussehen."
Er deutete auf ein rot-schwarz kariertes Rüschenkleid, auf dessen Rückseite eine prunkvolle Schleife eingearbeitet war.
Gwendolyns Augen begannen zu leuchten.
"Ja, das ist echt süß. Und es ist echt günstig dafür, dass es so hübsch ist. Nur fünfundzwanzig Euro."

"Weißt du was? Wir kaufen das Kleid jetzt einfach, bevor Oskar es tut."
Gwendolyn strahlte über beide Ohren.
Sie war immer völlig aus dem Häuschen, wenn sie im Begriff war, hübsche neue Kleidung zu bekommen.

Fred klickte auf den "Kaufen"-Button und wurde daraufhin aufgefordert, seine Kontodaten und seine Adresse anzugeben.
Gedankenlos füllte er das Formular aus.

Er konnte es kaum erwarten, Gwendolyn in diesem Kleid zu sehen.

Ihm war nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass diese Bestellung möglicherweise ein Fehler sein könnte.

Er konnte ja nicht wissen, was er damit auslösen würde.

VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt