39. Schuld

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Ich sah ihn an, unfähig etwas über meine Lippen zu bringen. Mein Hals fühlt sich trocken an und erschwerte mir, den Versuch zu sprechen.

»Verstehst du jetzt, wieso ich nicht möchte, das du in meiner Nähe bist?« Er sieht mich an, so verletzt, so fertig mit allem. Und obwohl es eine Frage war, klang es eher verzweifelt und feststellend. Ich löse mich von ihm und stütze meine Hände im Gras ab. Mein Gesicht ist nahe an seinem und meine Augen betrachten sie.

Die Konturen seines Gesichts, seine hohen Wangenknochen, seine langen Wimpern, seine vollen roten Lippen und auch seine dunklen Augen, die mich jeder Zeit in den Abgrund ziehen könnten. Vielleicht taten sie es schon. Aber wenn es so ist, dann bleibe ich in dieser Dunkelheit. In seiner Dunkelheit. Ich konnte nicht anderes als meine Hand an seine Wange zu legen und mit meinen Daumen sanft drüber zu streichen.

»Du hast sie nicht getötet.« Ich flüstere es nur, aber laut genug, dass er es hören konnte. Er schüttelt den Kopf und nimmt meine Hand von seiner Wange. »Doch, habe ich. Es ist meine Schuld, das sie tot ist. Ich habe sie in den Tod gestürzt, sonst niemand anderes.«

Es tut weh, ihn so zu hören. Er gibt sich die Schuld für ihren Tod. So wie ich es tue. Vielleicht haben die Gerüchte ihn dazu gebracht, sich selbst als Mörder abzustempeln. Wenn man andauert hören muss, man sei für etwas schuldig, dann fängt man irgendwann es zu glauben, denn plötzlich kennst du es nicht mehr anders. Dennoch, es bricht mir das Herz ihn so überzeugt zu hören. Er könnte sie nicht töten, niemals. Nicht sie.

Bevor ich etwas drauf erwidern kann erhebt er sich und hätte mich dabei fast mit seinem Ellbogen getroffen. Ich weiche zurück und sehe von unten zu, wie er sich aufrecht hinstellt und mit einem tiefen Atemzug zum Gehen ansetzt. Plötzlich überfüllt mich die Angst, er würde gehen und mich hier sitzen lassen, ohne mir Antworten hinterlassen zu haben. Auch ich richte mich auf, streiche mir über die schwarze Hose und sehe dabei zu wie Lion sich hinter dem Grabstein niederkniet. Ich kneife die Augen verwirrt zusammen.

Was macht er da?

Mit kleinen und langsamen Schritten gehe ich auf ihn zu, stelle mich neben ihm hin und sehe ihm dabei zu wie er den Stein abtastet. Ich runzle die Stirn. Was sucht er? »Stell dich vor ihrem Grab«, weist er mir an. Ich nicke verwirrt. Wie mir befohlen stelle ich mich vor ihrem Grab und kniete mich nieder, sowie Lion. Ihr Todesdatum blickt mir sofort entgegen.

Und da ist sie wieder, dieses Gefühl. Diese Leere, der Schmerz. Es ist als würde ich auf Simons Grab starren. Vor meinem Auge tauch das Bild von seinem Grabstein, indem sein Tod und sein Name eingemeißelt wurde. Simon starb sechs Monate nach ihr. Das ist keine so große Zeitspanne.

Sie sind beide zu früh gestorben, aus Gründen, die keinen Sinn ergeben. Wieso musste Simon umgebracht werden? Er hat nichts getan. Er wollte nur seine Schwester beschützen und musste mit seinem Leben dafür bezahlen. Ich weiß nicht wieso Mary tot ist, aber das ist auch nicht mehr wichtig. Sie ist tot und keiner kann sie mehr zurückbringen. Niemand kann Tante Silvia, Simon, weder Mary retten. Dafür ist es zu spät.

Aber es hätte erst gar nicht passieren dürfen...

»Schau auf ihren Namen«, holt er mich plötzlich aus meinen Gedanken. Ich nicke. Mary Kenney. Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt. Ich wünschte ich hätte all meine Freunde hier in Ohio früher kennengelernt. Wäre es dann so gekommen? Hätte ich mich in Lion oder in Jacob verliebt? Würde Mason nicht auf Josie stehen? Hätte David dann einen Freund?

»Drück auf Mary.« Ich schrecke hoch. »Was?«, bringe ich verwirrt heraus. Ich soll was tun? Auf sie drücken? Mit offenem Mund und gerunzelter Stirn starre ich ihn an. Er schüttelt nur den Kopf, schluckt schwer und nickt zu dem Stein. »Drück auf den Namen Mary.«

Querida StonesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt