TWELVE

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Ich schlief nicht eine Minute, nicht ein einziges Mal konnte ich meine Augen geschlossen halte oder mich überhaupt nur dazu zwingen nicht an den Vorfall zu denken. In mir wütete nicht als Angst, Scham und Wut. Ich war unendlich wütend auf diesen Mann, denn er sorgte dafür, dass ich mich schwach und klein fühlte. Ich fühlte mich wieder in meine Kindheit zurück versetzt, eine Zeit, die ich gerne einfach aus meinem Kopf streichen wollte. Leider war das kaum möglich. Manchmal war es nur ein Geruch oder ein bestimmtes Gefühl, was mich direkt dorthin zurückholte. Es war ein undloser Kreis, dem ich niemals entkommen konnte, den ich niemals vergessen konnte. Das schlimmste war aber nicht die Kindheit im allgemeinen, sondern dieser eine Moment, dieser eine Moment in dem alles zusammengebrochen war und ich die Kontrolle über alles und mich selbst verloren hatte. Meine Schutzmauern waren gebrochen, meine Verstand war verrückt geworden. Ich war gebrochen worden.

Meine Tür wurde geöffnet und ich setzte mich völlig verschwitzt und durch den Wind auf. Jonny sah mich an. An seinem Oberteil konnte ich Blutflecken sehen und ebenso an seiner Wange. „Ist bei dir alles in Ordnung?“, fragte ich überrascht. Er sah kurz an sich herunter. „Ja, ist nicht von mir. Joker will dich sehen.“, sagte er schnell. Ich stand auf und hatte ganz vergessen, dass ich nur Unterwäsche trug. Aber noch bevor ich es bemerkte hatte Jonny sich schon umgedreht. Ich holte mir ein Shirt und eine Shorts aus meinem Schrank und wusch mir kurz mein Gesicht mit kaltem Wasser, dann ging ich zu ihm.

„Wieso will er mich sehen?“, fragte ich auf dem Weg nach unten. Jonny antwortete nicht, sondern führte mich nur weiter den Flur entlang und öffnete eine schwere Tür, die ich noch nicht bemerkt hatte. Dahinter verbarg sich eine Treppe, die von schwachem Licht beleuchtet wurde. Schreie drängen an mein Ohr und ich machte automatisch einen Schritt zurück. Was wollte man von mir? Hatte ich einen Fehler gemacht? Jonny legte mir eine Hand auf die Schulter, was mich zusammenzucken ließ. Ich wollte noch immer nicht, dass mir irgendjemand zu nahe kam. „Er wird dir nichts tun, er will dir nur etwas zeigen.“, sagte er beschwichtigend. Ich schluckte, nickte dann und folgte ihm die steinernen Stufen nach unten.

Hier war es viel kälter als im Rest des Hauses, aber dennoch war ich mit nicht sicher, ob das der einzige Grund für meine Gänsehaut war. Ich konnte Angst in jeder Zelle meines Körpers spüren, als Jonny eine Tür öffnete von der aus die Schreie kamen. Doch als ich in den Raum sah wurde ich überrascht oder viel mehr erschreckt. In dem Raum saß der Mann, Carlos, und blutete am ganzen Körper. Auf seiner nackten Brust zeichnete sich ein großes J ab, was ihm wohl eingebrannt wurde, und an seiner Stirn hing ein Teil seiner Haut in Fetzen. Ich hielt den Atmen an. Das war schrecklich, barbarischen, völlig hirnrissig, aber doch irgendwie gerecht und zufriedenstellend. Ich konnte zwar nicht sagen, dass ich so viele Schmerzen hatte erleiden müssen, wie er, aber mit Sicherheit hatte ich dieselbe Angst verspürt. „Wunderbar. Dieses Lächeln macht das alles noch so viel besser.“, hörte ich auf einmal die raue Stimme des Jokers neben mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich meine Mundwinkel gehoben hatte und den Mann zufrieden ansah. „Auf diese Reaktion hatte ich gehofft meine Hübsche Maddi.“, fügte er hinzu und ich sah nun ihn an. Sein Hemd war nun überhaupt nicht mehr weiß, sondern tief rot. Außerdem hingen ihm grüne Haarsträhnen vor der Stirn, die in mir das seltsame Verlangen hervorriefen, sie aus seinem Gesicht zu streichen. Schnell verbannte ich diesen Gedanken aus meinem Kopf. Vor mir stand immer noch er, der Joker, der Massenmörder, der König der Unterwelt. Ich wandte meine Blick wieder ab und begann langsam den Idioten zum umrunden, der auf einem Hocker saß und kraftlos die Schultern hängen ließ. Auf seinem Rücken zeichneten sich Striemen ab, die mich an Peitschenhiebe erinnerten. Interessiert trat ich näher und legte meine Finger in eine der Wunden, was den Mann schmerzvoll schreien ließ. Als ich merkte, was ich tat, trat ich schnell wieder auf meinen ursprünglichen Platz zurück. „Ist sie nicht faszinierend. So unschuldig und doch so böse.“ Da war es wieder dieses Lachen, dieses verrückte, abgedrehte Lachen. Ich fand langsam gefallen daran, deshalb war ich augenblicklich verstört von mir selbst. Was zur Hölle war denn jetzt los?

Eine Weile sah ich weiterhin den Idioten an, bis der Joker vor mich kam und mein Gesicht in seine Hände nahm, damit ich ihn ansehen musste. „Er hat dir wehgetan, richtig?“, fragte er. Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte, aber ich nickte. „Sag es!“ Zu meiner Überraschung zuckte ich nicht wieder zusammen, sonder sah ihm weiter in seine Augen. „Ja.“, antwortete ich leise, aber anscheinend laut genug. „Er hat dir Angst gemacht, richtig?“, fragte er weiter. „Ja.“, meine Stimme wurde ein wenig lauter und fester. „Er hat dein Haus zerstört und dir somit deine letztes Andenken genommen, richtig?“ Wieder bejahte ich seine Frage. „Und...“ Er trommelte mit seinen Fingern leicht auf meinen Schläfen. „Willst du ihm wehtun? Ihm alles nehmen, was ihm noch bleibt? Willst du ihn töten?“ Ich zögerte, aber die Fragen, die ich vorher alle bejaht hatte, zeigten mir, wie sehr er mich gebrochen hatte. „Ja.“, sagte ich entschlossen und der Joker grinste breit. „Gutes Mädchen.“, entgegnete er zufrieden und streckte die Hand aus. Jemand kam näher und drückte ihm eine Pistole in die Hand, die er daraufhin mir hinhielt. „Sie gehört ganz dir.“

Ich hatte die Waffe in der Hand und zielte direkt auf den Kopf des Mannes, der leise wimmerte. In meinem Kopf formte sich sein Gesicht langsam zu dem meines Bruders, zu dem von Nico. Er grinste mich mit seinem grässlichen selbstzufriedenen Grinsen an, was ich immer so gehasst hatte. Ich hatte ihn gehasst und ich tat es noch. Kurzer Hand ließ ich meine Hand ein Stück weit sinken und zielte auf seinen Schritt. Er wollte mich vergewaltigen, beide hatten es gewollt. „Du widerst mich an.“, sagte ich und drückte auf den Abzug, der ihm mitten in sein Bestes Stück traf. Er schrie laut auf und ich konnte Tränen auf seinen dreckigen Wangen sehen. Wieso fühlte ich mich nicht schlecht? Wieso hatte ich keine Schuldgefühle? Wieso genoss ich das hier? Was ist bloß aus mir geworden? Ich hörte wieder das Lachen hinter mir, was sich anhörte, als wäre er völlig aus dem Häuschen. Ich konnte die Schreie des Mannes plötzlich nicht mehr ertragen und schoss erneut. Diesmal traf ihn die Kugel direkt zwischen den Augen. Augenblicklich verstummte er und fiel rückwärts vom Stuhl. Ich konnte meinen Blick nicht von seinem leblosen Körper abwenden.

Jemand trat neben mich und ich nahm grünes Haar wahr. Ich hielt dem Joker die Pistole hin, die er sofort entgegen nahm. „Ich habe ihn getötet.“, murmelte ich. Genau diese Worte hatte ich auch zu mir selbst damals gesagt, als ich meinen Bruder erstochen hatte. Es war wie eine Zeitreise, eine Wiederholung. „Und wie fühlt es sich an?“, fragt der Joker herausfordernd. Ich dachte kaum nach, da hatte ich auch schon geantwortet. „Gerecht.“ „Ohoh, kleine Maddi. Du bist ein böses Mädchen.“, raunte er, klang aber überaus zufrieden. Ich sah noch wenige Augenblicke auf den Mann, der auf dem Boden lag, dann wendete ich mich ab. Ohne noch einmal zurück zu blicken ging ich die Treppe nach oben und bis rauf in mein Zimmer. Dort riss ich mir die Kleidung gerade zu vom Leib und ging sofort ins Bad unter die Dusche. Alles an mir ekelte mich an. Ich hatte einen Menschen getötet und nicht mal mit der Wimper gezuckt. Ich verspürte keine Schuld, kein Scham, und das machte mich verrückt. Etwas in meinem Kopf begann ganz allmählich falsch zu laufen, ziemlich falsch. Hätte mir jemand vor einer Woche gesagt, dass ich einen Menschen mitten in Haus des Jokers, nachdem dieser ihn gefoltert hatte, töten würde, hätte ich laut gelacht. Ich eine Mörderin? Das war purer Wahnsinn. Ich schoss auf Leute und fühlte mich in der Gegenwart das Jokers wohler als allein. Was machte dieser Ort mit mir? Was machte er mit mir?

What if...? [+18]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt