Liv
»Dad, wo ist Conley? Geht es ihm gut?« Meine Stimme bebt, während die Angst um mein geliebtes Pferd jegliche körperliche Schmerzen, die ich in diesem Moment verspüre, zurückdrängt. Obwohl sich in meinem Kopf alles dreht, schaffe ich es nicht, meine brennenden Augen von Dad abzuwenden, der neben mir an meinem Krankenbett sitzt. In seinen warmen brauen Augen liegt so viel Kummer und Trauer, dass die Angst in meinem Inneren mit jedem Augenblick, in dem Dad schweigt, ein bisschen mehr wächst. »Wo ist er, Dad? Bitte«, wiederhole ich meine Frage mit Nachdruck, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Dads Schweigen und sein kummervoller Blick sind mehr als genug Antwort, doch mein Herz muss die Worte, die Dad nicht aussprechen möchte, hören. Nur ein einziges Mal, damit ich weiß, dass es kein Traum ist. Ich sehe durch den Schleier vor meinen Augen, wie Dad nach meiner Hand greift. Dann sagt er voller Trauer: »Er ist tot, Olivia. Conley hat es nicht geschafft.« Und mein Herz bricht. Ich habe ihn verloren. Keuchend fuhr ich aus dem Schlaf hoch, schmeckte das Salz meiner Tränen und blickte mich desorientiert in meinem Zimmer um. Mein Herz raste wie wild, während mein Schlafshirt vollkommen verschwitzt an meinem Oberkörper klebte und kalter Schweiß meinen Rücken hinunterlief. Übelkeit stieg in mir hoch und die Wände schienen immer näher zu kommen, bis mein Atem nur noch unregelmäßig kam. Ich spürte die nahende Panikattacke, bevor sie überhaupt da war. Und als sie wie eine Flutwelle über mich hereinbrach, war ich vollkommen alleine. Alleine mit der Erinnerung an meinen Traum und kurz davor, in meinen Gefühlen zu ertrinken. Es tat schrecklich weh, doch ich schaffte es nicht, die Flutwelle aufzuhalten. Nicht heute.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis mein Atem und mein wild rasendes Herz sich beruhigten und der Raum seine normale Größe wieder annahm, doch als es geschah, fühlte ich mich, als hätte man mich um den halben Hof gejagt. Ich war erschöpft, hatte Schmerzen und doch war nicht mehr an Schlaf zu denken. Ich hatte die vergangenen Nächte, seit mir klar geworden war, dass Conleys Todestag nahte, kaum ein Auge zu getan. Heute Nacht jedoch war es besonders schlimm gewesen. Ich war in dem Bewusstsein, dass sich am Morgen alles ändern würde, eingeschlafen und unzählige Male wieder aufgewacht. Nun war es sieben Uhr und ich wusste, dass ich mich bald für die Uni fertig machen musste, doch mir war klar, dass ich es heute nicht schaffen würde, in einem Raum voller Menschen zu sitzen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Denn das war es nicht. Ich hätte gerne so getan, aber ich konnte es einfach nicht. Nicht, nachdem mir dieser Albtraum oder viel mehr diese Erinnerung an jenen Tag vor zwei Jahren gezeigt hatte, warum heute kein Tag wie jeder andere war. Ich war ohnehin schon mies darin, Dinge zu verdrängen, aber heute schien es mir noch viel unmöglicher zu sein. Der Schmerz schien heute so viel intensiver zu sein. Ich spürte das fehlende Teil meiner Seele, meiner Selbst umso mehr. Etwas fehlte und es würde nie wieder zurückkehren.
Trotz meines heimlichen Wunsches, mich den ganzen Tag in meinem Bett zu verstecken, schob ich mich aus dem Bett. Meine Tränen waren längst getrocknet. Ich hatte so viel geweint die letzten zwei Jahre über, dass ich manchmal kaum noch Tränen übrig hatte. Doch das hieß nicht, dass es nicht wehtat, wenn ich nicht weinte. Es tat weh, sehr sogar. Mir blieb noch etwas Zeit, bis Ashley und Everlyn aufstehen würden. Und bis dahin wollte ich weg sein, auch wenn Ashley die Einzige von beiden war, die wusste, was für ein Tag heute war. Doch ich hatte keine Lust, meinen Freundinnen oder sonst einem Menschen in diesem Zustand zu begegnen. Alles, was ich wollte, war allein sein, weswegen ich ebenfalls darauf verzichten würde, in die Uni zu gehen. Ich wusste einfach, dass ich es nicht schaffen würde. Außerdem hatte ich längst ein anderes Ziel vor Augen. Eines, das ich die meiste Zeit des Jahres mied. Doch heute schien es mir seltsamerweise der einzige Ort zu sein, an dem ich den Schmerz ertragen konnte.
—
Eine halbe Stunde später ließ ich mich leise schluchzend an der brauen Holzwand in Conleys ehemaliger Box hinunter auf den kalten Betonboden rutschen, ehe ich meine Knie an die Brust zog, sie mit meinen Armen umschlang und meinen Kopf auf ihnen bettete. Ich gab mich dem stechenden Gefühl in meinem Herzen hin und trauerte, wie ich es vor einem Jahr ebenso getan hatte. Mir war klar, dass seine Box ein seltsamer Ort war, um zu trauern, aber es war die einzige Verbindung zu ihm, die mir blieb. Ich wollte hier sein, auch wenn die Gefahr viel zu groß war, dass ich Daniel, Dad, Sean oder sonst wem über den Weg laufen würde, der genau wusste, was vor zwei Jahren geschehen war. Jeder auf diesem Hof schien davon zu wissen, selbst die anderen Reiter, von denen so früh am Morgen glücklicherweise noch niemand hier war. Ich hätte es nicht ertragen, wenn jemand von ihnen mich so gesehen hätte, selbst wenn es nur Dad oder Sean gewesen wären. Denn sie waren die letzten, die ich heute sehen wollte. Sie waren es, die entschieden hatten, Conley einzuschläfern. Und Dad war es schließlich gewesen, der Conley sein Leben mit einer einzigen Spritze genommen hatte. Ich nahm es Dad schon längst nicht mehr übel und Sean auch nicht, weil sie nur getan hatten, was getan werden musste, aber es hätte viel zu sehr wehgetan, sie ausgerechnet heute zu sehen. Ich hätte es nicht geschafft, ihnen in die Augen zu blicken, weil Conley vielleicht noch hätte hier sein können, wenn Dad und Sean nicht gewesen wäre. Er hätte überleben können, auch wenn die Chance gering gewesen war.
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REPEAT HIS LOVE TODAY
Romance»Ich habe nie dich gehasst. Ich habe das gehasst, was du mir angetan hast...« Liv und Luc. Seit ihrer Kindheit haben sie einander geliebt, bis Luc nach dem Tod seines Vaters spurlos verschwindet und Liv nichts als ein gebrochenes Herz bleibt. Drei...