Liv
Der weiße Holzrahmen in meiner Hand fühlte sich rau und glatt zugleich an, während die Seiten einige Dellen aufwiesen, als hätte der Rahmen seine besten Jahre bereits hinter sich. Ich schluckte hart. Obwohl meine Hand zitterte und das Glas des Rahmens zerkratzt war, sah ich genau, was sich hinter der Glasscheibe verbarg, und wünschte mir mehr als alles andere, dass ich es nicht gesehen hätte, dass es nicht das war, wonach es aussah. Doch es war genau das und gleichzeitig noch so viel mehr. Mein schmerzendes Herz pochte so laut, dass ich die Geräusche der Musik und die lauten Stimmen meiner Freunde einfach ausblendete. Meine Hände wurden feucht, während meine Kehle sich plötzlich staubtrocken anfühlte. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken, und doch bewegte ich mich nicht von der Stelle, holte keine Luft oder wagte es auch nur, zu blinzeln. Es fühlte sich an, als stünde ich unter Schock, so, wie kurz nach meinem Unfall, als ich erfuhr, dass Conley tot war.
Immer und immer wieder flogen meine Augen über das Bild, das in dem weißen, demolierten Rahmen steckte, während mein Hirn versuchte, für das, was meine Augen sahen, eine logische Erklärung zu finden. Aber die gab es nicht. Mein Herz wusste längst, was ich da in den Händen hielt und wem es gehörte, während mein Kopf sich strikt dagegen weigerte, das Offensichtliche zu akzeptieren, weil es so viel verändern würde. Vieles, von dem ich längst nicht mehr wollte, dass es sich änderte. Eine Träne tropfte auf die zerkratzte Glasscheibe, direkt über dem lächelnden Gesicht des 12-jährigen Jungens, der seinen Arm lässig um die Schulter eines zierlichen, kleinen Mädchens mit wilden, braunen Locken gelegt hatte, die ebenso fröhlich in die Kamera lächelte, als hätte sie nie den Hauch einer Ungerechtigkeit erfahren. Die beiden sahen so unbeschwert und glücklich aus, dass mir der Anblick fast noch mehr das Herz brach, als die Tatsache, dass er wieder in Silverhaven war, ohne dass ich auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hatte. Wie lange war er schon hier? Warum hatte ich nichts davon mitbekommen? Wusste Newton Bescheid? Wie konnte einer meiner besten Freunde mit dem Mann zusammen leben, der mich im Stich gelassen hatte? Fragen über Frage und nicht eine einzige Antwort, die mir logisch erschien, dabei wollte ich es so sehr verstehen.
Eine weitere Träne folgte. Dann noch eine. Und noch eine, bis meine Wangen feucht waren und das Bild besprenkelt mit Tränen war. Mit einem leisen Aufkeuchen presste ich mir die freie Hand vor den Mund und taumelte einige Schritte zurück, als mir bewusst wurde, wo ich wirklich war. In meinem Kopf drehte sich mittlerweile alles so sehr, dass ich meine Umgebung nur noch verschwommen wahrnahm. Aber klar genug, um zu wissen, dass ich nicht hier sein sollte. Trotzdem blieb ich, den Blick noch immer auf das Bild in meiner Hand gerichtet. Es war vor über sieben Jahren an dem Geburtstag meines Dads entstanden. Luc musste fast 13 Jahre alt gewesen sein, ich war gerade erst 12 geworden und trotzdem hatte ich ihn an diesem Tag mehr geliebt als alle anderen Menschen, die an jenem Tag in unserem Garten gewesen waren. Es war so viele Jahre her und trotzdem erinnerte ich mich noch genau daran, wie Luc mir gesagt hatte, dass er am liebsten jeden Tag so mit mir verbringen würde wie an diesem Tag. Eine süßere Liebeserklärung bekam man von einem fast 13-jährigen Jungen vermutlich nicht. Mein Herz war förmlich explodiert vor Freude. Später hatte Lucs Mom dieses Bild von uns gemacht, obwohl ich mich anfangs dagegen gesträubt hatte. Ich war nie wirklich ein Fotomensch gewesen, aber für ihn hätte ich an jenem Tag alles getan. Zu seinem 13. Geburtstag einige Monate später hatte ich ihm schließlich ganz stolz diesen Rahmen mit dem Bild geschenkt, und er hatte ihn bis heute aufbewahrt, obwohl er mich verlassen hatte. Er hatte mich verlassen und mich glauben lassen, dass ich ihm nichts bedeutet hatte, trotzdem fand ich heute dieses Bild in seinem Zimmer. Es machte absolut keinen Sinn und stellte meine ohnehin schon verdrehte Welt noch mehr auf den Kopf.
Mit zitterndem Atem stellte ich das Bild zurück in das braune Regal, in dem unzählige Bücher über Tiermedizin und das Verhalten von Tieren standen, die mich daran erinnerten, wie sehr Luc die Tiere schon immer geliebt hatte. Scheinbar hatte sich das bis heute nicht geändert. Ich erinnerte mich daran, wie sehr er sich früher gewünscht hatte, Tiermedizin zu studieren und wie mein Dad Tierarzt zu werden. Ob er sich den Traum vom Tiermedizinstudium erfüllt hatte? Meine Augen wanderten über das Regal, während meine Lippen bebten und ich mit aller Kraft versuchte, nicht den Verstand zu verlieren. Es war alles so vollkommen absurd, dass ich nicht einmal wusste, was ich fühlen sollte. Trauer? Wut? Enttäuschung? Sehnsucht? In meinem Inneren kämpften so viele Gefühle ums Überleben, dass ich mich gleichzeitig so unfassbar leer fühlte, als hätte man mir ohne mein Wissen all meine Organe entnommen. Als ich meinen Blick weiter durchs Zimmer wandern ließ, begann mein Herz schneller zu schlagen und plötzlich fiel mir etwas anderes ins Auge, von dem ich längst nicht mehr erwartet hatte, es je wiederzusehen. Als Luc damals verschwunden war, hatte er nicht nur mein Herz mitgenommen. Da war noch etwas anderes gewesen, das mir viel bedeutet hatte. Er hatte es mir einfach genommen. Mein Notizbuch, das ich über alles geliebt hatte.

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REPEAT HIS LOVE TODAY
Romance»Ich habe nie dich gehasst. Ich habe das gehasst, was du mir angetan hast...« Liv und Luc. Seit ihrer Kindheit haben sie einander geliebt, bis Luc nach dem Tod seines Vaters spurlos verschwindet und Liv nichts als ein gebrochenes Herz bleibt. Drei...