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Sie würde weiter trinken, bis er nicht mehr war, würde nicht aufhören können.

Und sein ganzer Körper, so sehr er auch versuchte dagegen anzukommen, wollte sich nicht rühren, konnte sich nicht widersetzen, blieb schlaff und regungslos.

Warum konnte sie nicht stoppen? Warum konnte er nicht handeln, sie nicht zurückstoßen? Wollte er nicht? Nein, er wollte, er musste, die Sicherheit von Shú war wichtiger als was er wollte, er musste-

Karma rührte sich nicht, während Bluttropfen langsam seinen Hals runter rannten, haltlos, ohne weiteres. Sie würden den Boden erreichen, austrocknen und nichts als eine unscheinbare rote Spur hinterlassen. Genauso wie er.

Karma schloss die Augen, versuchte es nochmal. Nochmal. Keine Chance. Es war nicht möglich.

Er gab auf. Das war es dann wohl, hier nahm die Reise ihr Ende.

Zumindest würde er nicht vor seinem Zuhause sterben. Auch wenn es vielleicht symbolisch besser gewesen wäre, schließlich hatten sie sich dort kennengelernt.

Kühle Hände griffen nach ihm; fest, bestimmend, rissen ihn fort. Er hatte seinen Teil zu erfüllen, er musste zurück zu-

Karma blieb regungslos, kämpfte dagegen an sich gegen den Griff zu wehren, wurde weg von Nagisa gezogen, außer Reichweite gebracht.

Nagisa, die von Rió zurückgehalten wurde so gut es ihr möglich war, wollte zurück zu ihm, wollte es genau so zu Ende bringen wie er, gezwungen von einer höheren Macht. Versuchte sie auch, dagegen anzukämpfen? Ansonsten müsste sie sich längst losgerissen haben sollen-

"Lass los Rió, sofort!"

"Vergiss es, dass sind nicht deine Worte! Kayano, mach was!"

Kayano. Der Prinz, der sie verraten hatte, anscheinend. Es war Karma wirklich egal, aber der grün Haarige könnte ihn vielleicht zurück zu Nagisa bringen, also schenkte er ihm für einen Moment seine Aufmerksamkeit. Kayano lehnte an der Wand, hatte die Arme verschränkt und die Augen geschlossen.

"Was soll ich bitte machen? Du bist die Einzige die nicht unter dem Bann von Worten steht, Rió." Er warf einen Blick über Karma hinweg, sah den an, der ihn immer noch - mit Leichtigkeit - festhielt, "Zumindest sollte es so sein."

Wortbann. Richtig, Vampire hatten dieses ganze Ding mit Hierarchie. Es kümmerte ihn nicht, er wollte, er musste-

"Schaut nicht so vorwurfsvoll, mein Prinz, ich handele ganz und gar nicht gegen den Befehl. Immerhin wird ihre Majestät ihre Meinung ändern."

"Du scheinst dir ja sicher zu sein."

"Und ihr solltet nun ganz schnell eure Funktion als loyaler Hund erfüllen und Bericht erstatten, findet ihr nicht?"

Bericht erstatten? Warum konnte der Vampir ihn nicht endlich loslassen? Warte, nein, das war falsch. Wenn er zu Nagisa ging, würde sie-

Karma beruhigte sich langsam, der Drang gegen den Griff anzukämpfen ließ ab. "Wuff." Kayano schenkte dem Vampir hinter ihm einen angewiderten Blick, bevor er sich von der Wand löste, den Gang mit langsamen Schritten verließ.

"Aber er hat nicht unrecht, Rió-lein. Wie kommt es, dass du deine eigene Königin festhalten kannst?"

"Sei doch still. Sei einfach still!" Die Blonde blutete, goldener Staub flog zu Boden, überdeckte die roten Punkte seines Blutes ohne Mühe. Nagisa biss sich auf die Lippen, versuchte sich vom Sprechen abzuhalten, kämpfte weiterhin gegen den Griff an.

Der Vampir lachte, der vertraute klang brachte Karma endgültig zurück in die Gegenwart, riss ihn raus aus dem benommenen Zustand.

"Ach, das ist zu perfekt. Mach dir keine Sorgen, dass du Loyalität gewechselt hast zeigt nur wie viel Potenzial unser junger Kronprinz eigentlich hat. Und es kommt mir sehr gelegen, also wen kümmert es?" Auf einmal stoppte Nagisa völlig, wurde komplett schlaff, nach Luft schnappend. "Ah, da haben wir's. Prinz Kayano hat sich anscheinend doch beeilt."

Die blau Haarige hing einfach nur im Griff von Rió, würde zu Boden fallen wenn man sie nicht stütze. Das Bild mit anzusehen stach, noch mehr weil er wusste, dass er der Grund dafür war. Er war der Grund, er war Schuld daran.

"Was ist mit ihr?"

"Nichts weiter. Sie hat gegen einen direkten Befehl gekämpft; jetzt wo dieser wieder zurück genommen wurde ist sie müde. Das Gift muss sicher höllisch brennen."

Brennen. Gift? "Welches Gift?" Karma drehte sich um, traf die goldenen Augen.

"Das, was noch in dir drin war als ihre Majestät dich in der anderen Dimension angegriffen hat natürlich. Es war die ganze Zeit da, hat darauf gewartet einen würdigen Wirt zu finden. Zugegeben, es sollte ursprünglich für deinen Bruder genutzt werden, aber du musstest ja unbedingt die Braut davon stehlen."

Der Vampir seufzte theatralisch, gab ihm einen leichten Schubs vorwärts, "Wie auch immer, Zeit sich zu verabschieden." Noch ein Schritt, noch einen. So vieles, das durch Karmas Gedanken ging, so vieles, das ihn anschrie, ihn innerlich zerreißen wollte-

Noch einen Schritt. Noch einer, immer weiter weg. Lachen, das in seinem Kopf wider hallte, eine Hand auf seinen Augen.

"Stirb."

Lieblingsköter.

"Stirb."

Das war damals keine Attacke gewesen, keine Drohung und auch keine abwertende Äußerung ohne Sinn und Zweck.

Karma blieb stehen, sträubte sich gegen den nächsten Schritt. Ihre Worte damals waren ein Befehl, einer, den er bis vor kurzem noch mit vollen Einsatz hatte ausführen wollen. Die geheilte Wunde, das Ausbleiben von irgendwelchen Konsequenzen. Wie hatte er so blöd sein können? Er hatte das Gift die ganze Zeit in sich gehabt, der Befehl in ihm schlummernd wie eine wartende Schlange, bereit zu zubeißen wenn das Opfer nicht aufmerksam war.

"Verabschieden?" Das war seine Schuld. Er hatte sich angreifen lassen und es einfach vergessen, nicht weiter darüber nachgedacht. Es war seine Schuld. "Was soll das heißen, Verabschieden?"

"Na, na, beruhige dich, Karma", der Griff auf seinen Schultern, bis jetzt der schützende Faktor der ihn davon abgehalten hatte dem Gift in ihm drin zu gehorchen, wurde nun zu einem Käfig, sperrte ihn ein. Wurde stärker, stach in seine Haut hinein. "Wir wollen doch nicht, dass ein Abschied im Desaster endet, nicht war?"

"Hab dich."

Er wollte sein Messer ziehen. Er wollte nach Nagisas Hand greifen - er wollte weg, er hatte Angst. Er hatte Angst-

Ein Blick reichte, machte ihm klar, dass er sich nicht losreißen würde, nicht weiter den Mund öffnen konnte. Karma hörte auf, wurde ruhig.

Die Hand auf seiner Schulter schien mit jedem Schritt den er ging schwerer zu werden, den Druck zu erhöhen. Als würde der Vampir wissen, wie gerne er weglaufen würde, wie der Gedanke immer stärker wurde. Karma hatte den Blick von Vampiren, die ihre Beute genau ansahen nun schon zwei Male gesehen - es reichte um ihn wiederzuerkennen.

"Fein, gut gemacht. Lass uns gehen."

Noch fester, seine Knochen würden nachgeben, wenn der andere nicht bald ab ließ. Dabei war es so leicht, er musste nur Bescheid geben, sich beschweren. Wie sollte er sich je beschweren können? Er war schuldig für alles hier, hätte sich nicht dazu verleiten dürfen-

"Tut mit leid, dass ich gestohlen hab, es tut-"

"Hab dich."

"Lass los."

Es ging nicht, es tat weh. Ein kleines Kind, verängstigt und sich schuldig fühlend.

"Oh natürlich, hab ich dir weh getan?" Die Hand verschwand von seiner Schulter, nicht, ohne zuvor nochmals entschuldigend drauf zu tappen, ganz sachte.

"Tut mit leid."

Sie gingen den Rest des Weges schweigend, und Karma würde lügen, wenn er sagen würde er hätte sich nicht gewünscht, dass seine Beine unter ihm verrotten, ihn nicht weiter tragen würden.

Einen Schritt nach dem anderen.

Einen verdammten Schritt nach dem anderen.

ASSASINATION CLASSROOMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt