42. Kapitel

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Bestürzt rennt Zeke zu ihr. Ich stehe nur da und beobachte sie. Ich kann mich nicht mehr bewegen, ich will ihr nicht zu nahe kommen. Ich weiß nur zu gut wie sie sich jetzt fühlen muss und habe dennoch wahrscheinlich nicht mal den Hauch einer Ahnung. Ich atme tief aus. Nur die Ruhe. Shauna hockt immer noch auf dem Boden und vergräbt ihr Gesicht in Zekes T-Shirt. Er streicht ihr beruhigend über den Kopf und versucht sie zu trösten. Ich kann den Anblick nicht länger ertragen. Also drehe ich mich um und schiebe mich durch die Menschenmenge. Ich komme nur langsam voran, aber das ist besser als überhaupt nicht. Ich schaue mich nicht nochmal um, sondern blicke stur geradeaus. Ich kann Shauna eh nicht helfen.

Ich vergrabe  mich in Arbeit, allein schon deswegen, damit ich Shauna und Zeke aus dem Weg gehen kann. Zeke leider nur teilweise, da er auch im Kontrollraum arbeitet. Da meine Arbeitszeiten jedoch verschiebbar sind, ist es erträglich. Mein Arbeitsrhythmus kommt ziemlich aus dem Takt. Es beginnt damit, dass ich anfange später schlafen zu gehen. Ich stehe früher auf, schlafe nach kurzer Zeit nur wenige Stunden am Stück. Dazwischen laufe ich ruhelos durch die Gänge des Hauptquartiers. Ich lenke mich ab, gehe jedem aus dem Weg. Amar hat zum Glück aufgegeben mich irgendwie verstehen zu wollen und ich bin froh darum. Er soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Das Training bietet eine willkommene Abwechslung und ich bekomme einen klaren Kopf. Außerdem habe ich dabei nicht das Gefühl beobachtet zu werden oder die Angst, dass jemand herausfinden könnte, dass ich ein Unbestimmter bin. Es tut gut mal wieder man selbst sein zu können ohne jegliche Bedenken zu haben.

 Ich stehe in der Grube, am Rand der Schlucht und schaue dem stürzenden Wasser zu. Wie wild es fließt! So frei und ungehindert! Was für eine Kraft dahinter stecken muss! Ich starre ausdruckslos auf die Wellen, die Gischt, die mir manchmal ins Gesicht spritzt, als mich plötzlich jemand an der Schulter antippt. Auch ohne mich umzudrehen weiß ich, wer da hinter mir steht. Shauna.

 "Du bist oft hier, Four", meint sie leise. Fast hätte ich sie nicht verstanden, da die Wellen einen ordentlichen Lärm veranstalten, wenn das Wasser an die Felswände schlägt. Aber auch nur fast.

 Ich antworte nicht, sondern schaue nur weiterhin schweigend ins dunkle Blau des Wassers.

 "Ich habe dich hier oft gesehen. ER war auch gerne hier..."

 ER... damit muss sie David meinen.

 "Weißt du... manchmal komme ich auch hier her. Es ist einer SEINER Lieblingsorte..." Sie schluckt kurz, dann setzt sie noch ein "gewesen" hinterer. "Ich fühle mich dann nicht ganz so alleine... Die Wellen trösten mich, das Dröhnen unterbricht meine Gedanken und ich fühle mich - so lächerlich das auch klingen mag - verbunden mit IHM. Als wäre ER noch nicht komplett fort, als wäre ein kleiner Teil von IHM immer noch hier. Ich sehe IHN überall. In den Wellen ist SEIN Gesicht, dass kurz zwischen den Strömungen aufblitzt. Die Kerben in den Wänden und die Schatten zeigen SEINEN Umriss. Und im Spiegel sehe ich manchmal SEIN Gesicht hinter mir. ER fehlt mir."

 Ich drehe mich langsam zu ihr um. Sie sieht abgemagert, übermüdet aus. Ihre Augen haben sämtlichen Schimmer verloren und sind rot umrandet, eine Träne läuft ihr die Wange hinunter. Ihr Haar ist in einen losen Knoten gebunden. Das Gesicht wirkt eingefallen und kantiger. Sieht so jemand aus, der trauert? Anscheinend. Sie schluchzt leise vor sich hin. Vorsichtig ziehe ich sie in eine Umarmung. Normalerweise würde ich sowas nicht tun, aber Shauna ist sowas wie meine kleine Schwester, da ist das schon okay. Als sie gegen meine Brust schluchzt, trauere ich mit ihr. Ich würde alles möglich versuchen, um David zurückzuholen, aber ich kann nichts tun. Nicht mehr, als sie zu trösten.

 Nach einer Weile hebt sie ihren Kopf. "Hört es irgendwann auf so wehzutun?", fragt sie mich. Ich will ihr sagen, dass es das tut. Dass alles wieder gut wird. Dass sie über den Schmerz hinwegkommen wird und wieder glücklich ist. Und, dass sie stark genug ist um weiterzumachen. Aber ich kann es nicht. Ich kann sie nicht belügen. Aber ich kann ihr sagen, dass es besser wird.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt