30. Kapitel

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 Ich wache auf. Ausgeruhter als ich vorher war, aber immer noch nicht wirklich wach. Fast alle Initianten sind im Schlafsaal und machen sich fertig für die letzte Prüfung. Die härteste. Mit einem Mal fällt mir alles wieder ein. Mein Streit mit David und den Anderen. Das muss ich so schnell wie möglich klären, aber zuerst muss ich die Prüfung überstehen. Dann ist alles vorbei. Keine Simulationen mehr. Keine Kämpfe um Platzierungen. Dann bin ich frei.

 Seufzend stehe ich auf und mache mich fertig. Ich bin ein wenig nervös, aber das ist mittlerweile nichts neues mehr für mich. Gemeinsam gehen alle Initianten zu dem Raum in dem wir durch unsere Angstlandschaften gehen müssen. Als ich den steilen Weg hinter den Anderen hochgehe, erkenne ich einige Bildschirme an den Wänden. Davor stehen die Ferox. So ziemlich alle sind da, deswegen muss ich mich durch die Menschenmasse drängen. Es ist heiß und stickig. Auf einem der Bildschirme erkenne ich eine der Initianten. Sie ist anscheinend gerade in ihrer Angstlandschaft. Zum Glück kann man hier draußen auch nur ihre Reaktion auf ihre Ängste erkennen und nicht die Ängste selbst. Es gibt insgesamt drei Bildschirme. Der linke zeigt die Initiantin, der mittlere ihre Herzfrequenz und der rechte die benötigte Zeit. Gerade wird der mittlere Bildschirm grün und alle jubeln fröhlich auf. Anscheinend hat sich ihre Herzfrequenz normalisiert und sie ist in die nächste Simulation übergetreten.

 Ich betrete einen Raum. Er ist voll von verschieden Ferox, sowie einigen Initianten. Da ich so spät bin, bekomme ich keinen Sitzplatz mehr. Die eine Wand des Raums besteht aus einer Glasscheibe. Dahinter sehe ich wieder die Initiantin. Vor einem weiteren Bildschirm sitzen mehrere Ferox, alle durch Elektroden an einem Computer verbunden. Anscheinend sind dies die Anführer, die die Simulationen überwachen. Einer davon ist Max.

 Im Nachbarraum werden die Lichter angeschaltet. Die Anführer kommen zu ihr und bereden etwas. Anscheinend gratulieren sie ihr zum Abschluss, denn sie schütteln ihr alle die Hand. Sie hat Glück. Sie hat es geschafft. Aber sie wird erst später erfahren, ob sie schnell genug war um unter die zehn besten zu kommen.

 Amar steht hinter mir. "Jetzt seid ihr dran, Fraktionswechsler!", ruft er. "Die Reihenfolge sind die umgekehrten Plätze beim Ranking. Das heißt Tony beginnt und Four ist am Ende an der Reihe, verstanden? Dann mal viel Glück!"

 Neun Leute sind vor mir an der Reihe. Von außen ist das alles ziemlich uninteressant, aber ich will wissen wie schnell die anderen sind, deswegen versuche ich ihnen zu folgen. Einer nach dem anderen betritt den Raum. Jetzt sind nur noch fünf Leute vor mir. Noch drei. Noch zwei. Noch einer. Max ruft mich auf. "Four!"

 Ich löse mich aus meiner Starre und gehe zu ihm. Er hat bereits eine Spritze mit dem Serum in der Hand. Den Einstich spüre ich kaum noch. Meine Hände zittern und mir ist schlecht. Trotzdem will ich das hier durchziehen. Dann betrete ich den Raum. Und alles beginnt sich zu drehen, dann wird es schwarz.

 Wind erfasst mich, stößt mich fast vom Rand des Daches. Es ist kalt hier oben. Die Sonne ist gerade am Aufgehen und ich kann die Skyline der Stadt erkennen. Die meisten Häuser sind nur schwarze Schatten, eigentlich Umrisse, die man nur grob erkennen kann. Eigentlich wäre es wunderschön. Wenn da nicht diese gewaltige Höhe wäre. Wieder weht der Wind, diesmal aber um einiges stärker als zuvor. Meine Knie zittern. Ich habe Angst. Trotzdem muss ich hier irgendwie herunterkommen. Ich weiß, dass es keine Leiter gibt. Nur ein Sprung kann mich retten. Oder ein Sturz. Obwohl es nicht real ist, habe ich dennoch Panik. Das löst die Höhe bei mir aus. Das Gefühl festgewachsen zu sein. Ich kann mich nicht mehr bewegen, nicht mehr klar denken. Ich bekomme kaum noch Luft. Atemnot. Aber ich denke an David. Wie er da halb in der Schlucht hing. Ich denke an die vielen Meter, die wir hätten fallen können. Ich versuche mich daran zu erinnern. An das Gefühl das ich hatte, als er endlich wieder oben stand. Auf sicherem Boden. Langsam schließe ich die Augen. Ich weiß was ich zu tun habe. Ich werde das durchziehen. Noch einmal tief durchatmen. Sofern das geht. Die kühle Luft brennt in meinem Hals, aber erfüllt mich mit Zuversicht. Ich werde es überleben. Das weiß ich. Innerlich zähle ich bis drei. Eins...noch ein letztes Mal tief einatmen. Zwei...ich bin ein Ferox. Ich habe keine Angst. Drei. Dann nehme ich Anlauf. Und springe vom Dach. Der Wind pfeift um mich herum und ich denke: Das war's jetzt. Jetzt bist du tot. Schwerelos fliege ich durch die Luft. Meine Augen kneife ich noch immer fest zusammen. Ich will nicht sehen, wie der Boden immer näher kommt. Plötzlich spüre ich einen Boden unter meinen Füßen. Ich habe keinen Aufprall gespürt, nur der Wind war plötzlich weg. Erleichtert öffne ich die Augen und presse meine Hände auf meine Brust um endlich wieder ordentlich Luft zu bekommen. Hinter mir kommt auf einmal eine Wand zum Vorschein. Auch links, rechts und gegenüber von mir sind plötzlich Wände. Verzweifelt drücke ich mich gegen eine von ihnen. Sie gibt nicht nach. Mit einem lauten Knall fällt die Decke herunter. Ich stöhne auf und ducke mich. Ich passe nur mit Not in den kleinen Raum. Ich will hier raus! Es ist dunkel und eng. So dunkel, dass ich meine Hände kaum noch erkennen kann. Verzweifelt stoße ich einen Schrei aus. Verdammt! Ich kann hier nicht raus. Es gibt wieder nur eine Möglichkeit: Ich muss meinen Puls normalisieren. Ich hocke mich auf den Boden, mache mich so klein wie es geht um noch so viel Platz wie möglich zu den Wänden zu haben, aber die Decke sinkt mit mir. Verzweiflung steigt in mir hoch. Es erinnert mich zu sehr an alles, was ich verdrängen wollte. Es erinnert mich an Marcus. An die Bestrafungen, die daraus bestanden, dass er mich im Schrank eingesperrt hatte. Aber auch an viele schöne Momente. An Lukas. An meine Mutter. An meine kleine Schwester. Sie starb kurz nach ihrer Geburt, genau wie meine Mutter. Wie alt sie wohl jetzt sein würde, wenn sie überlebt hätte? Wahrscheinlich so um die fünf bis sechs Jahre. Und wie sie wohl aussehen würde? Ob sie die gleichen Augen wie Mutter haben würde? Oder doch eher die von Marcus? So vertreibe ich mir die Zeit. Mein Puls wird ruhiger und ich entspanne mich ein bisschen.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt