Als ich aufwache, drehen sich meine ganzen Gedanken um diesen merkwürdigen Brief. Ich habe das Gefühl, dass damit nichts Gutes passieren wird. Und dass es wichtig ist, was auch immer es bedeuten mag. Aber was bedeuten diese ganzen Zahlen? Sie haben eine tiefere Bedeutung, dessen bin ich mir sicher. Aber ich weiß, dass ich in solchen Sachen immer viel zu unkreativ war. Wahrscheinlich bin ich es auch immer noch. Wir hatten einmal als Hausaufgabe in der Unterstufe, eine Nachricht zu entschlüsseln. Selbst als wir einen Lösungsschlüssel hatten, wusste ich immer noch nicht genau, was ich damit machen sollte. Lukas allerdings, hat es ohne Probleme lösen können. Auch ohne den Schlüssel. Damals habe ich mich gefragt, wieso er das konnte. Jetzt weiß ich die Antwort und bin nicht gerade sonderlich glücklich darüber. Bloß wie sollte ich jetzt den Brief entschlüsseln? Ohne einen cleveren Jungen, der mir den ganzen Mist erklären konnte? Ich bin ratlos. Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, das herauszubekommen. Leider fällt mir nur eine einzige Lösungsmöglichkeit ein. Sie gefällt mir nicht, ich sträube mich regelrecht dagegen sie zu verwirklichen. Wenn mir bis nach der Arbeit nichts eingefallen ist, dann werde ich es tun. Ich werde diese Möglichkeit durchziehen, egal wie schwer es für mich wird. Aber ich habe meinen Stolz. Ich werde nicht kriechen oder um Hilfe winseln. Lieber sterbe ich. Nein, ich werde eine andere Möglichkeit finden. Ich muss es. Sonst wird mir nichts anderes übrig bleiben. Und das ist die letzte Sache, die ich wirklich tun möchte.
"Four!"
Verdammt! Erschrocken blicke ich ihn zwei kalte Augen, die mich mit hochgezogenen Brauen anfunkeln.
"Ja? Was gibt's?"
"Hast du mir eigentlich zugehört?!", brüllt Jessy mich an. Es erinnert mich ein wenig an einen Puma. Ihr Mundgeruch kommt diesem auch schon recht nah. Schnell halte ich die Luft an und lehne mich ein wenig zurück. Dann umfasse ich mit der rechten Hand meinen Nacken und sage: "Natürlich. Das ist meine Lieblingsbeschäftigung. Das könnte ich den ganzen Tag tun. Warte - das mache ich ja schon! Erschreckend, nicht wahr? Wie schnell doch die Zeit vergeht!"
"Machst du dich jetzt über mich lustig?", fragt sie und kneift drohend die Augen zusammen.
"Nein, ich doch nicht!"
Sie mustert mich kritisch, aber anscheinend versteht sie so etwas wie Sarkasmus nicht. Zumindest scheint sie zu glauben, dass ich das eben gesagte ehrlich so meinte. Sie ist ganz eindeutig nicht die hellste.
"Ich wollte wissen, was ..." Und dann kommen nur noch unbedeutende Dinge aus ihrem Mund, dass ich abschalte und ein gelangweiltes Gesicht unterdrücken muss. Eigentlich besteht die Ausbildung nur aus dem Auswendiglernen von verschiedenen Begriffen, einige kurze Zusammenfassungen der einzelnen Bereiche - die eigentlich alle so ziemlich das selbe machen, nur aus verschiedene Orte bezogen. Nur die Leute, die wichtige Dokumente schützen und überwachen, müssen wirkliche Computerkenntnisse besitzen. Beim Rest reicht es schon zu wissen, wo oben und wo unten ist und was man mit einer Maus alles machen kann. Im Notfall oder bei irgendwelchen Anomalitäten wird eh sofort der Springer informiert. - und den Umgang mit einem Computer. Vor allem in letzterem bin ich überraschend gut. Vielleicht liegt es daran, dass man bei einem Computer nicht auf irgendwelche Eigenarten achten muss, sondern einfach die Befehle eintippt und darauf wartet, das sie ausgeführt werden. Man kann sie nicht mit Worten oder dem eigenen Verhalten verletzen. Sie sind für mich so viel einfacher zu verstehen wie die Menschen. Bei ihnen kann man so viel falsch machen. Ein einziges Wort kann alles zerstören, was man sich mühsam aufgebaut hat. Das habe ich schon oft genug gemerkt. Es ist so viel einfacher mit Maschinen zu arbeiten. Sie widersprechen einem nicht.
Mein Arbeitstag ist zu ende. Ich bin müde und mir schmerzt - wie so oft in letzter Zeit - der Kopf. Aber diese Schmerzen sind rein physisch. Damit komme ich klar. Mit meinen psychischen Schmerzen eher weniger. Ich setze auf meine altbewährte Methode: verdrängen. Aber auch das ist nicht länger möglich. Da mir keine bessere Lösung eingefallen ist, habe ich den Brief geholt und stehe nun an den Schienen. Der Zug müsste gleich eintreffen. Ich wünsche mir, er würde sich verspäten, gleichzeitig wünsche ich mir, dass er schon längst da war und ich nun auf dem Weg nach Hause wäre. Leider erfüllen sich meine Wünsche in der Regel nicht. Zumindest nicht so, wie ich es gern hätte. Ich vernehme ein leises Zischen, das immer lauter wird. Noch ist es hell, aber bald wird die Dämmerung einsetzen. Trotzdem hat der Zug bereits seine Lichter an, als er in meine Sichtweite gerät. Ich warte einen Moment ab bis hier ist, dann laufe ich ein Stück neben ihm her und schwinge mich gekonnt in das Wageninnere. Er ist komplett leer. Wer sollte denn auch schon um diese Uhrzeit mit dem Zug fahren? Mir fällt auf, wie natürlich es mir mittlerweile vorkommt, mich in einen fahrenden Zug zu setzen. Es ist so, als hätte ich nie etwas anderes getan. Und darüber kann ich mich nicht beschweren.

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Tobias' Geschichte
FanfictionDiese Story beschreibt Tobias' Leben von dem Test bis zum Treffen mit Tris. Ich habe versucht mich in seine Gefühlswelt einzufinden und seine Beweggründe und Gedanken darzustellen. Aber lest selbst!