Auf diese Art und Weise will man sich nicht wiedersehen. Man erinnert sich an die vielen schönen Moment, an all die Erinnerungen. Aber man sieht diese Person und denkt sich: "Es war alles eine Lüge." Und die Erinnerungen, an die ich mich die ganzen Jahre über geklammert habe, werden zu nichts als Staub. Ich merke, dass ich eine Lüge gelebt habe. Jahrelang. Tagaus. Tagein. Immer nur haben mich die Gedanken an meine Mutter mich daran abgehalten aufzugeben. Ich dachte mir, dass ich sie glücklich machen könnte. Das sie irgendwo im Himmel wäre und so auf mich herabschauen würde. Dass sie auf mich aufpassen würde. Und wieder war ich zu naiv. Zu leichtgläubig.
"Nun gut, dann bleibe ich lieber bei Evelyn", meint sie. Ich blicke sie an. Kalt und abweisend. Sie hat es nicht anders verdient.
"Was willst du von mir?"
"Ich will dich an meiner Seite haben. Du bist mein Sohn. Du solltest bei deiner Mutter sein." ich schüttel bloß den Kopf.
"Meinst du nicht, dass es dafür schon ein bisschen zu spät ist?" Meine Stimme klingt tonlos. Vielleicht auch ein wenig brüchig. Und dafür hasse ich mich. Das ich nicht mal jetzt meine Fassade ablegen kann. Ablegen darf. Sie ist meine Mutter. Nein, sie war es. Vor vielen Jahren. Zu vielen. Ich bin genauso für sie gestorben, wie sie für mich.
"Ich konnte dich damals nicht mitnehmen. Es war zu gefährlich für dich. Aber ich habe dich nie alleine gelassen, glaub mir! In Gedanken war ich immer bei dir. Jeden Tag. Jede Nacht. Ich habe an dich gedacht. Ich habe mir unser Wiedersehen ausgemalt. Unsere Wiedervereinigung. Und sie war himmlisch."
"Und ist sie so, wie du sie dir ausgemalt hast?", frage ich kühl.
"Nein, leider nicht", seufzt sie. "Du bist nicht mehr der liebe Junge, den ich zurückgelassen habe."
"Frag dich nur, wieso", werfe ich bitter ein.
"Tobias, hör mir jetzt genau zu, wir haben nicht viel Zeit!"
"Stirbst du sonst? Wenn ja, dann bitte erspar mir das kitschige Gerede über Liebe und Familie und geh einfach sterben. Das würde es uns beiden angenehmer machen. Aber wahrscheinlich willst du dich noch verabschieden bevor du gehst. Also dann: Leb wohl!" Dann drehe ich mich um und will wieder ins Hauptquartier, als mich jemand am Arm festhält.
"Hör mir zu!", fordert sie angespannt. Wiederwillig drehe ich mich zu ihr um. Dann schaue ich sie auffordernd an.
"Damals habe ich nur meinen Tod vorgetäuscht." Was sie nicht sagt. "Ich habe es bei deinem Vater einfach nicht mehr ausgehalten. Ich konnte das nicht mehr. Und dich bei ihm zu lassen, war mit Abstand das Schwierigste, dass ich jemals tun musste. Ich wusste, was er dir antun würde. Aber es war besser so. Er konnte dir ein Dach über dem Kopf bieten, eine Schulausbildung, genügend zu Essen. Das alles konnte ich nicht. Deswegen habe ich mich entschlossen, ohne dich zu gehen. Ich wollte immer, dass du selbst erkennst, was für ein grausamer Mensch dein Vater ist. Und ich wollte nicht, dass du fraktionslos wirst. Du solltest die Chance haben, selbst zu bestimmen wer du bist und wer du sein willst. Und ich bin wahnsinnig stolz auf dich. Du hast es geschafft! Du bist allein da durchgekommen! Du brauchtest mich nicht. Das hast du nie. Du brauchtest nur dich selbst. Und dazu habe ich dir verholfen. Du hast erkannt, wie stark du bist. Wie stark du sein kannst, wenn du es willst. Und du hast erkannt, dass es hier bei weitem nicht perfekt ist. Nicht mal annähernd. Und darum bin ich stolz, dass ich dich meinen Sohn nennen kann!" Mit diesen Worten endet ihre Rede. Ich weiß nicht wohin ich schauen soll. Unruhig betrachte ich den Boden. Was erwartet sie jetzt von mir?
"Willst du jetzt ein 'Dankeschön' hören? Dafür, dass du mich alleine gelassen hast? Denn das wirst du nicht. Ich hatte nie die Wahl zu entscheiden, wer ich sein will. Ich wurde von Marcus dazu gemacht. Und von dir auch. Dadurch, dass du weggegangen bist, hast du mir jede Chance genommen, in irgendeiner Art und Weise glücklich zu sein. Aber das ist in Ordnung. Es kann eh nicht mehr rückgängig gemacht werden." Diesmal klingt sie fest. Ich bin entschlossen, wie schon lange nicht mehr. Ich weiß genau, was ich sagen muss ohne vorher noch großartig zu überlegen.

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Tobias' Geschichte
FanfictionDiese Story beschreibt Tobias' Leben von dem Test bis zum Treffen mit Tris. Ich habe versucht mich in seine Gefühlswelt einzufinden und seine Beweggründe und Gedanken darzustellen. Aber lest selbst!