6. Kapitel

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Ich wage es nicht mich zu bewegen. Das muss ein Irrtum sein! Er kann nicht mich meinen! Alle schauen mich an. Sie warten gespannt auf meine Reaktion.

"Na wird's bald?"

Max scheint nicht sehr geduldig zu sein.

Meine Füße bewegen sich langsam in Richtung Abgrund. Als ich hinunterblicke erkenne ich, dass im Boden ein schwarzes, kreisförmiges Etwas ist. Ich kann nur nicht genau sagen, was es ist. Meine Füße bewegen sich immer noch näher auf den Rand des Dachs zu.

Dann stehe ich an der Kante. Ich habe einen Kloß im Hals. Schon wieder.

Wenn ich jetzt nicht springe, werde ich es nie tun, deswegen stoße ich mich ab.

Ich falle. Bekomme kaum noch Luft. Der Boden rast auf mich zu. Der Wind pfeift in meinen Ohren und ich denke nur noch daran, dass ich, selbst wenn ich jetzt sterbe, wenigstens frei bin. 

Der Boden unter mir ist hart. Zuerst gibt er nicht nach, letztendlich werde ich aber sanft aufgefangen. Erleichtert blicke ich nach oben. Man sieht das Dach, auf dem die restlichen Initianten stehen, aber sie selbst kann ich nicht erkennen.

Als ich mich umsehe, merke ich, dass ich in einem rieseigen Netzt gelandet bin. Mehrere Hände strecken sich mir entgegen. Ich ergreife eine von ihnen. Sie hebt mich auf ein Podest, auf dem schon mehrere Ferox stehen. Ich habe den ersten Teil ihrer Initiation schon überstanden.

"Wie heißt du?", fragt mich ein großer, hellblonder Ferox mit freundlichen, braunen Augen.

Ich weiß darauf keine Antwort, denn ich will hier nicht als Sohn von Marcus Eaton bekannt sein, deswegen schweige ich nur.

"Das ist eine gute Entscheidung von dir", sagt er nur. "Mein Name ist Amar. Bleib einfach hier stehen und warte auf die restlichen Springer."

Nachdem endlich alle wieder festen Boden unter den Füßen haben, führt uns Amar zu einem kleinen Raum.

"Ihr werdet alle nacheinander durch eure Angstlandschaften gehen. Das sind Orte, in der ihr eure schlimmsten Ängste treffen werdet und sie bekämpfen müsst. Die Simulation endet erst, wenn ihr durch alle eure Ängste gekommen seid. Ihr könnt sie bekämpfen, indem ihr euch ihnen stellt oder euch soweit beruhigt, dass euer Puls sich wieder im Normalbereich befindet. Ihr werdet in umgekehrter Reihenfolge drankommen, wann ihr gesprungen seid. der letzte Springer kommt also nun zuerst und der erste Springer zuletzt. Also dann kommt jetzt bitte der letzte Springer mit mir", sagt er.

Ein Mädchen folgt ihm zögerlich, dann geht es durch die Tür und ist verschwunden.

Einer nach dem anderen wird aufgerufen und verschwindet hinter der Tür. Hin und wieder kann ich einen Schrei hören oder ein Schluchzen, aber sonst ist alles still. Die wartenden Initianten reden nicht miteinander. Jeder wartet einfach nur ab bis er aufgerufen wird.

 Jeder wird aufgerufen, aber keiner ist wieder herausgekommen. Sie sind alle unterschiedlich lange dort. Mittlerweile sind nur noch Eric und ich übrig. Die Tür öffnet sich wieder und Amar kommt heraus.

"Eric", sagt er. "Du bist dran."

Eric steht auf und folgt ihm durch die Tür.

Wieder warte ich. Es ist still. Dann hört man Schreie und Schluchzen. Ich glaube, sie kommen von Eric. Ich hätte ihn nie als jemanden eingeschätzt, der schnell damit anfängt. Das beunruhigt mich. Jedes Geräusch klingt mittlerweile zu laut. Das Ticken der Uhr, die über der Tür hängt wird sogar unerträglich. Tick. Tack. Immer im selben Abstand. Tick. Tack. Ich höre das Quietschen eines Stuhls, der über den Fußboden schabt. Dann wird dir Türklinke heruntergedrückt. Wie lange sitze ich schon hier? Ich weiß es nicht. Zu lange.

Amar steht in der Tür.

"Komm mit." Mehr sagt er nicht.

Ich gehe durch die Tür in einen weißen Raum. Darin stehen zwei Stühle. Der eine erinnert mich an den Stuhl bei dem Test. Daneben ist ein alter Holzstuhl, er steht vor einem Tisch mit einem Bildschirm.

"Setz dich auf den Stuhl."

Ich tue, was er mir sagt. Auch dieser Stuhl ist nicht wirklich bequem. Amar trägt etwas in der Hand. Es ist eine Spritze mit einer orangenen Flüssigkeit.

"Was ist das?", frage ich.

"Das ist ein Serum. Es bringt dich in die Angstwelt und das ohne das du mit Kabeln angeschlossen wirst.", erklärt er mir geduldig. Es kommt mir eher vor, als hätte er dies schon hunderte von malen getan.

"Wie funktioniert das?" Ich bin neugierig. Zu neugierig.

Er scheint das aber nicht zu bemerken. "In dem Serum befindet sich ein Transmitter. Er sendet die Daten an den Computer."

Die Nadel ist lang. Langsam lehnt er sich über mich und sticht sie mir in den Hals.

"Die Wirkung setzt in ungefähr sechzig Sekunden ein. Wie schon gesagt, du kannst nur aus der Simulation raus, indem du dich deinen Ängsten stellst oder du deinen Puls so unter Kontrolle bekommst, dass er wieder normal wird.", sagt Amar.

"Und wie lange wird das ungefähr dauern?", frage ich.

"Das kommt ganz darauf an, wie viele Ängste du hast. Die meisten Menschen haben zwischen acht und zwölf Ängste. Je schneller du dich beruhigst, umso schneller bist du wieder zurück in der Wirklichkeit."

Mein Kopf wird schwerer. Ich lasse mich fallen.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt