4. Kapitel

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 Ich stehe vor der Zentrale. Heute ist die Zeremonie der Bestimmung. Die Zentrale ist das höchste Gebäude in der Stadt. Man sieht von fast überall die beiden Lichter auf der Spitze. Wir sind einer der ersten. Als wir die Treppen zur Eingangshalle hinaufgehen merke ich, dass ich mich noch immer nicht für eine Fraktion entschieden habe. Es beunruhigt mich, denn eigentlich fasse ich recht schnell Entschlüsse, die ich auch durchziehe. Aber heute ist es anders. Ich fühle mich anders, als würde ich gar nicht hierher gehören. Als würde ich nicht in dieses Leben gehören, dass mir irgendeiner aufzudrängen versucht. Ich wehre mich, doch gegen diese Macht kann ich nichts ausrichten.

Als wir die Treppen bis ins zwanzigste Stockwerk hinaufsteigen, zittern mir die Knie. Ich muss mich entscheiden und zwar bald. Ich muss mich auf meine Intuition verlassen. Aber darin bin ich nicht besonders gut.

 Im zwanzigsten Stockwerk angekommen bin ich schon ganz außer Atem. Als ich durch die Tür in den Raum trete, in dem die Zeremonie abgehalten wird, halte ich vor Überraschung die Luft an. Ein großer, prachtvoll geschmückter Saal liegt vor mir. Der komplette Saal ist in konzentrische Kreise aufgeteilt. An den Wänden stehen die zukünftigen Initianten. Wenn man die Initiation überstanden hat, gilt man als ein offizielles Mitglied der Fraktion, die wir uns heute aussuchen werden. Ich stelle mich zu den Jugendlichen. Die meisten kenne ich nicht, aber sie kennen mich. Allein schon der Name "Tobias Eaton", lässt die Leute aufhorchen. Mein Vater ist nicht bei allen beliebt. Die Menschen schauen einen an, wenn man an ihnen vorbeigeht. Mittlerweile habe ich mich schon daran gewöhnt, in der Öffentlichkeit immer unter Beobachtung zu stehen. Es ist kein schönes Gefühl, aber ich kann es nicht ändern. Ich hasse dieses Gefühl. Mir läuft es dabei jedes Mal kalt den Rücken hinunter. Wir stellen uns nach unseren Nachnamen geordnet, die wir heute vielleicht zum letzten Mal tragen werden, in alphabetischer Reihenfolge auf. Ich kenne die beiden Amite-Mädchen nicht, neben denen ich stehe, aber ich bemerke, wie sie mich neugierig beobachten. Ich versuche, es nicht zu beachten und mich stattdessen nach Lukas umzuschauen, aber ich kann ihn nirgends finden.

 Jedes Jahr wird die Zeremonie der Bestimmung von einer anderen Fraktion organisiert. Dieses Jahr waren die Ken an der Reihe. Deswegen wird auch die diesjährige Begrüßungsrede von Jeanine Matthews gehalten. Ich kann sie nicht besonders gut leiden. Sie ist eine kalte, unberechenbare Frau mit grauen Augen und einer schneidenden, unangenehmen Stimme.

 Sie steht auf einem Podest in der Mitte, auf der sich auch die Schalen befinden.

 "Willkommen. Heute ist ein sehr wichtiges Ereignis für alle Sechzehnjährigen. Heute ist die Zeremonie der Bestimmung, bei der wir die Grundsätze unserer Demokratie ehren, die von unseren Vorfahren gegründet wurde. Sie lehren uns, dass jeder Mensch das Recht hat, seinen eigenen Weg zu wählen, den er gehen möchte. Vor vielen Jahren erkannten unsere Vorfahren, dass niemand anderes für die Kriege und für die Zerstörung der Welt verantwortlich war, als der Mensch. Damals wurden die fünf Fraktionen gegründet, die wir heute kennen. Jeder Mensch hat das Recht sich für eine der verschiedenen Lebensweisen zu entscheiden und diese auszuleben. Durch diese Lebensweisen leben wir seitdem in Frieden und Einklang mit allen Menschen. Sie alle geben dieser Gemeinschaft viel und wir könnten nicht ohne eine von ihnen überleben, denn sie ergänzen sich. Das ist sehr wichtig, denn nur so können wir den Frieden waren. Vor allem unser Grundsatz "Fraktion vor Blut" hält uns zusammen, denn nur unsere Fraktion gibt unserem Leben einen Sinn und eine Richtung."

 Sie sagt für ein paar Sekunden nichts, damit ihre Worte auf uns wirken können.

 "Wir müssen unseren Frieden waren um unsere Freiheit waren zu können und ohne ", fügt sie dann noch hinzu.

 Stille.

 Mich hat die Rede herzlich wenig beeindruckt, aber den anderen scheint es anders zu gehen, denn sie starren gebannt auf Jeanine Matthews. Diese atmet tief ein und fängt an die Initianten nach alphabetischer Reihenfolge laut aufzurufen. Einer nach dem anderen stellt sich auf das Podest, schneidet sich mit einem Messer in die Hand und hält diese so lange über die Schale, die für seine neuen Fraktion steht, bis ein Tropfen Blut hineinfällt und wird somit zum Initianten.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt