15. Kapitel

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Der Rest der Nacht verläuft soweit recht traumlos. Zum Glück. Ich weiß nicht, wie ich es verkraften soll mein Leben zu sehen, ohne dass ich mich daran erinnere. Ich fühle mich so schutzlos, so taub. Ich weiß nicht wie ich reagieren soll, wie ich reagieren würde, wenn ich noch ich wäre. Aber das bin ich nicht mehr. Vielleicht ist es gut, dass sich eine Wand zwischen mir und meinen Erinnerungen befindet. So kann ich einen Neuanfang wagen.

Ich werde pünktlich am nächsten Morgen geweckt und beeile mich mit dem Umziehen. Dann stehe ich ratlos im Zimmer herum und warte darauf, dass jemand mir sagt was ich zu tun habe.

Ein Junge kommt auf mich zu. Er sieht nicht besonders freundlich aus. Ich mag ihn nicht. Das weiß ich. Er hat irgendetwas getan. Ich sollte mich von ihm fern halten.

Er spricht mich an. "Na Four, nichts besseres zu tun als im Weg herumzustehen? Mach Platz!"

Wie freundlich! Wäre ich clever würde ich ihm Platz machen und ihn hindurchgehen lassen, aber auch ich habe meinen Stolz. Und den hat er verletzt. Aber Rache wird am besten kalt serviert. Also muss ich mich noch ein wenig gedulden. Langsam trete ich einen Schritt zur Seite, lasse ihn dabei aber nicht aus den Augen. Er und sein Gefolge gehen an mir vorbei, lassen es sich aber nicht nehmen mich noch mal anzurempeln. Die sollten mal zurechtgestutzt werden!

"Four, kommst du frühstücken?"

Ich drehe mich um. In der Tür steht Shauna und sie wartet ungeduldig auf meine Antwort. Erleichtert, dass sie mich aus meinen Gedanken gerissen hat, nicke ich ihr zu und laufe in ihre Richtung. Als ich vor ihr stehe umarmt sie mich kurz.

"Ist alles okay bei dir? Kannst du dich wieder erinnern?", fragt sie mich aus. Ich schüttel nur den Kopf. Ich kann und möchte es ihr nicht sagen. Das ist zu privat und ich kenne dieses Mädchen ja auch erst seit gestern.

Schweigend laufen wir zum Speisesaal. Dort angekommen, setzen wir uns zu Zeke und David, die mich beide mit einem Lächeln begrüßen.

"Na wie geht's dir so?", fragt mich Zeke. Wie geht es mir eigentlich? Ich fühle mich so...leer. Wie eine leere Schachtel, eine Hülle.

Er schaut mich auffordernd an.

"Gut. Es geht mir gut", sage ich und hoffe, dass die Lüge niemandem auffällt. Zeke schaut mich aber nur stumm an. Er weiß das es mir nicht gut geht. Doch er sagt nichts und in diesem Moment bin ich ihm sehr dankbar dafür.

Nach dem Essen bringen die drei mich noch zu Amar und laufen dann zu ihrem eigenen Training. Ich stehe in der Trainingshalle und warte auf weitere Anweisungen. Er zeigt auf eine Schultafel, auf der mehrere Namen stehen, und sagt, dass wir gegen denjenigen Kämpfen sollen, dessen Name neben unserem steht. Ich blicke neugierig zur Tafel. Die Stelle neben meinem Namen ist leer. Ich atme auf. Anscheinend habe ich eine Gnadenfrist.

Nachdem er die letzten Anweisungen gegeben hat, kommt Amar auf mich zu und zieht mich am Arm zu mehreren Boxsäcken, die von der Decke baumeln.

"Du wirst heute hier trainieren. Dir werden ein paar Schläge gezeigt werden und morgen darfst du dann gegen Jemanden antreten. Du musst schnell lernen, die anderen sind dir schon zwei Tage voraus. Also konzentrier dich und fang an! Die Schläge zeigt dir Cole." Er deutet auf einen jungen Mann, der am anderen Ende der Halle steht. "Sonst noch Fragen?"

Ich schüttel nur den Kopf und Amar winkt ihn her. Dann geht er zu den anderen Initianten.

"Du bist also Four." Er steht vor  mir und seine schwarzen Augen blitzen gefährlich.

"Ja. Und du bist also Cole.", wiederhole ich ihn. Seine schwarzen Haare sind recht lang und auf seinen Armen sind mehrere Tattoos.

"Lass uns anfangen." Er dreht sich zu einem der Boxsäcke und führt einen Schlag nach dem anderen vor, nennt mir den Namen und lässt mich den Schlag wiederholen. Ich kenne diese Schläge! Jeden einzelnen. Aber woher? Und vor allem: Von wann?

Immer und immer wieder muss ich den Schlag ausführen, so lange, bis Cole davon überzeugt ist, dass ich ihn beherrsche. Dann kommt der Nächste. Und der Nächste. Und der Nächste. Zu Schluss werden meine Arme immer schwerer und ich habe das Gefühl, dass sie gleich abfallen.

"Bist du schon müde?", fragt mich Cole und ich schüttel als Antwort nur den Kopf. Ich brauche die komplette Luft zum Atmen und kann sie nicht fürs Reden verschwenden.

"Komm, gib doch auf. Tu mir den Gefallen. Weißt du, wen du nämlich jetzt aufgibst, dann habe ich jetzt Feierabend und kann tun und lassen was ich will. Und das wird definitiv interessanter sein, als hier mit dir rumzuhängen und dir ein extra Training zu verpassen, weil Amar der Meinung bist du wärst das Wert und hättest eine zweite Chance verdient, nachdem dich der eine Initianten so verprügelt hat, dass du dich an nichts mehr erinnern konntest! Also, wie du siehst, ich habe besseres zu tun."

Ich bin kurz davor aufzugeben und das zu tun, was Cole gesagt hat, als mir etwas einfällt.

Nie wieder als schwach oder ängstlich bezeichnet zu werden. Egal von wem. Ich werde gut sein. Nein. Gut sein reicht hier nicht. Ich werde verdammt nochmal der Beste sein. Und es allen beweisen. Am meisten ihm. Meinen Vater. Ich will nie wieder vor ihm knien müssen. Ich will ihn nie wieder sehen. Auch, wenn das heißt das ich jemand anderes werden muss. Ein anderer Mensch. Doch lieber anders als ängstlich und feige. Und verletzbar.

 Ich darf nicht aufgeben! Ich habe es mir versprochen. Und meinem Vater. Auch wenn ich nicht genau weiß, wieso ich es ausgerechnet ihm versprochen habe. Ich werde meine Gründe gehabt haben.

Ich muss weiterkämpfen. Wenn ich aufgebe, hat Cole gewonnen. Aber wenn ich das hier bis zum Mittagessen durchhalte, dann habe ich gewonnen. Dann habe ich ihn besiegt. Also hebe ich wieder meine Hände und schlage weiter auf den Boxsack ein. Erstaunt beobachtet mich Cole und das spornt mich noch mehr an. Ich werde immer müder, aber ich darf nicht aufgeben. Ich werde der Beste sein. Mit zusammengebissenen Zähne trainiere ich weiter. Cole beobachtet mich kritisch.

"Amar hatte Recht", sagt er.

"Wobei?" Verflixte Neugierde!

"Bei dir." Was zum Teufel meint er damit? Kann er nicht mal Klartext reden?

Ich schaue ihn irritiert an.

"Er war der Meinung, dass du ein Kämpfer bist. Das du stärker bist als die anderen Initianten. Er hatte Recht."

Dann dreht er sich um und geht. "Du kannst schon zum Mittagessen gehen!", ruft er mir nur noch über die Schulter zu.

Ich habe gewonnen! Ich habe wirklich gewonnen! Ich habe Cole besiegt. Ich habe nicht verloren und das werde ich auch nicht. Nicht mehr in solchen Sachen. Nie wieder.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt