29. Kapitel

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"David!", rufe ich und schaue nach unten. David hängt mit einer Hand am unteren Teil des Geländers. Erschrocken vergesse ich völlig, dass Eric noch immer hinter mir steht. Ich vergesse meine Höhenangst. Ich vergesse die Prüfungen. Die Initiation. Die Ferox. Alles was ich sehe ist David. Sofort beuge ich mich über das Geländer und greife nach seiner freien Hand, die er mir entgegenstreckt. Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf rutscht seine andere Hand ab. Ich kann ihn gerade noch rechtzeitig halten. Das Geländer drückt unangenehm in meinen Bauch, doch ich ignoriere es. Ich muss David so schnell wie möglich da hochziehen. Doch wie? Ich allein kann ihn kaum halten, wie soll ich ihn dann hochziehen?

 "Eric!" Meine Stimme klingt schon hysterisch.

 "Jaaa?", kommt es gedehnt.

 "Mach sofort was! Hol Hilfe!"

 "Wieso sollte ich? Ich liebe gute Unterhaltung und ihr beide seit wirklich sehr witzig!", sagt er. Dann bricht er in Gelächter aus. "Mal sehen, wie lange du das aushältst. Ich geh jetzt duschen. Ruf mich einfach, wenn du Hunger oder Durst bekommst." Dann geht er weg. Kurz bevor er komplett außer Hörweite ist, ruft er jedoch: "Ach ja, falls ich dir einen Tipp geben darf: Lass ihn besser nicht los. Sonst fällt er und dann hast du einen Freund weniger."

 Ich hasse nicht viele Leute. Wirklich nicht. Ich kann sie nur nicht leiden. Die Candor, beispielsweise. Ich mag solche Klugscheißer einfach nicht. Oder die Amite. Ständig freundlich und immer gut gelaunt. Mit diesen Leuten komme ich einfach nicht klar. Aber es gibt eine Handvoll Leute, die ich wirklich hasse. Marcus, zum Beispiel. Und Eric. Ich verabscheue ihn. Er ist wie die Pest. Nein, er ist viel schlimmer. Er ist eine lachende Pest, die jeden zur Weißglut bringt und keine Überlebenden lässt.

 Davids Hand rutscht ein Stück ab.

 "Halt dich fest!", brülle ich ihm zu. Sein Arm zittert stark, ich weiß, dass er sich nicht mehr lange halten kann. Warum ist niemand da? Warum hilft mir niemand?

 "Nein!", höre ich seine Stimme. "Lass mich los!"

 "Niemals!", gebe ich zurück. "Eher falle ich mit dir in die Schlucht!"

 Fieberhaft suche ich nach einer Möglichkeit ihn wieder auf sicheren Boden zu befördern.

 "Du musst mich loslassen!", redet er auf mich ein. Nein! Niemals! "Wenn du mich nicht loslässt, dann werden wir beide draufgehen! Und es reicht mir schon, wenn ich schuld an meinem eigenen Tod bin, da muss ich nicht auch noch verantwortlich für deinen sein!"

 "Weißt du, du bist einer der wenigen Freunde die ich hier habe. Außerdem habe ich schon genug Menschen verloren, ich werde nicht zulassen, dass es noch mehr werden!" Irgendwie muss ich ihn doch über das Geländer heben können. Doch wie? Als wäre diese ganze Situation nicht schon verzwickt genug, fangen langsam auch meine Arme an zu zittern und Davids Finger rutschen ein Stück ab. Aber noch kann ich ihn halten. Noch.

 "Das ist ja wirklich rührend von dir!", meint er. "Aber ich kann mich nicht mehr halten. Und du mich auch nicht mehr lange. Lass uns das Ganze ein wenig beschleunigen, ja?"

 "Vergiss es!", knurre ich ihn an. "Du hast verdammt nochmal diese beschissene Initiation fast geschafft, morgen nur noch diese blöde Prüfung und wir sind durch. Ich werde dafür sorgen, dass du daran teilnimmst und ein wirkliches Mitglied wirst, verstanden? Du wirst ein gutes Ergebnis erzielen, unter die besten zehn Initianten kommen, aufgenommen werden, einen tollen Job bekommen und verflixt nochmal glücklich werden! Dann suchst du dir eine Freundin, heiratest und bekommst ganz viele nervige kleine Kinder, wirst alt und stirbst irgendwann an Altersschwäche mit neunzig Jahren im Kreis von deiner Familie. Und dann wirst du beerdigt werden und im Licht, oder wo auch immer du sein wirst, auf dein Leben zurückblicken und zufrieden denken: Zum Glück hat Four mich an dem Tag vor der Prüfung nicht in die Schlucht fallen lassen, dann hätte ich das alles gar nicht erlebt!" Ich muss tief Luft holen. Meine Arme zittern immer stärker, deswegen versuche ich mich aufs Atmen zu konzentrieren. Ein. Aus. Ein. Aus. Dann höre ich ein merkwürdiges Geräusch, es kommt von David. Zögernd blicke ich zu ihm herunter. Dieser Kerl ist definitiv verrückt! Das Geräusch kommt aus seinem Mund. Er lacht!

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt