Kapitel 40

471 17 3
                                        

Seit dem Gespräch habe ich nichts mehr von Amar gehört. Ich bin ihm nicht mehr in den Gängen begegnet oder ihn beim Speisesaal gesehen. An sich nichts ungewöhnliches, dennoch beunruhigt das mich. Wahrscheinlich wird er die neuen Initianten trainieren. Es ist unglaublich, wie schnell das Jahr vergangen ist. Es ist so viel passiert, hat sich so viel geändert und trotzdem kommt es mir vor, als sei ich schon wesentlich länger Teil dieser Fraktion. Fast schon zu lange. Aber ich kann es nicht ändern, nicht mehr. Meine Chance auf eine freie Wahl hatte ich verspielt. Ich hatte die falsche Wahl getroffen und damit muss ich mich nun abfinden. Für den Rest meines Lebens. Es sei denn... NEIN. Niemals. Ich darf gar nicht erst daran denken. Nur über meine Leiche. Ich hasse sie schließlich. Abgrundtief. Aber ihr Angebot war nicht schlecht und es wird mit jedem Tag verlockender. Aber will ich wirklich alles aufgeben? Alles, was ich mir hier so mühsam erarbeitet habe? Ich weiß es nicht. Noch nicht.

 Heute ist der Tag der Initiation für die Neuen. Deswegen ist es recht leer und ungewohnt still. Meine Beine tragen mich wie von selbst in den Kontrollraum. Insgeheim habe ich ihm den Namen "Kerker" gegeben, weil es immer so dunkel ist. Einzig das Flackern der Bildschirme erhellt die steinigen Wände. Es liegt einen unheimlicher Schatten über dem Raum. Ich bin nahezu alleine. Nur ein paar Ferox halten sich im hinteren Teil auf. Sie sitzen bewegungslos vor den Bildschirmen, starren auf die Bilder von irgendwelchen Menschen, die nicht einmal wissen das sie überwacht werden. Sie erinnern mich an kleine Kinder, vollkommen gefesselt von dem was sie sehen, unfähig es zu verstehen.

 Ich beobachte sie noch eine Weile, sehe ihre ausdruckslosen Augen, ihre vor Konzentration zusammengezogenen Augenbrauen, die zusammengebissenen Zähne und die aufgerissenen Lippen. Kein besonders schöner Anblick, dennoch fesseln sie mich. Sie denken sie wüssten etwas. Denken, sie würden etwas verstehen. Und dennoch wissen und verstehen sie gar nichts.

 Mit einem Seufzen wende ich mich von ihnen ab und beginne mit meiner Arbeit.

 Erst ein Klopfen auf meiner Schulter reißt mich aus meiner Arbeit. Zeke steht hinter mir. Er schaut genervt.

 "Willst du gar nicht mal was essen?", fragt er gereizt. Anscheinend war sein Tag nicht allzu gut.

 "Doch, schon. Ist es schon so spät?", antworte ich eher verwirrt. Ich muss anscheinend vollkommen die Zeit vergessen haben.

 "Ja. Warum bist du überhaupt hier? Du hast doch keine festen Arbeitszeiten!"

 "Auch ich hab eine bestimmte Anzahl von Stunden in der Woche, in denen ich arbeiten muss! Und weil heute eh die meisten weg sind, dachte ich mir halt, dass ich meine Stunden jetzt abarbeite. Umso mehr Freizeit habe ich."

 Er nickt zustimmend. "Meinen Zeitplan kennst du ja ungefähr. Und ich habe Hunger, also lass uns was essen!"

 Langsam stehe ich auf. Irgendwas kommt mir merkwürdig vor.

 "Du willst doch nur pünktlich zum Essen, weil die Initianten kommen, oder?", frage ich ihn kopfschüttelnd.

 Zeke nickt. "Das ist einer der aufregendsten Tage im Jahr! Den lasse ich mir doch niemals entgehen!"

 Lächelnd folge ich ihm nach draußen. Endlich ein bisschen Normalität!

 Unterwegs treffen wir Shauna. Auch sie will sich anscheinend nicht die Begrüßung der Initianten entgehen lassen. Es ist ein ungewohntes Gefühl, mal wieder mit den beiden durch die Gänge des Hauptquartiers zu schlendern.

 "Wo ist eigentlich David?", frage ich sie.

 Es herrscht Schweigen. Zeke stößt mich mit dem Ellenbogen an und schüttelt nur stumm den Kopf. Ich beiße mir auf die Lippen.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt