Ich warte auf Lukas. Er ist immer noch nicht aus dem Raum gekommen. So langsam mache ich mir echt sorgen. Hoffentlich ist ihm eine Fraktion zugeteilt worden. Wenn er sich für keine Fraktion wirklich geeignet hätte, dann müsste er wahrscheinlich bei den Fraktionslosen, den Leuten, die die Initiation nicht bestanden haben oder keiner bestimmten Fraktion angehörig gemacht werden können, auf der Straße leben. Die Leute, die zu keiner der Fraktionen passen, werden Unbestimmte genannt. Ich weiß nicht, wo sie leben, aber ich habe noch nie einen von ihnen gesehen. Wahrscheinlich werden sie verbannt oder hinter den Zaun gebracht. Oder sie werden getötet.
Endlich kommt Lukas. Ich frage mich, was sein Ergebnis war, doch wir können und dürfen mit niemandem über die Ergebnisse unserer Eignungstests reden. Es fällt mir schwer ihn nicht danach zu fragen. Sein Gesicht ist blass und seine Finger zittern ein bisschen, doch ansonsten scheint es ihm ganz gut zu gehen. Ich atme erleichtert auf. Er schaut mich an. Dann gehen wir zurück in die Cafeteria, wo die meisten Leute schon den Test überstanden haben und nun darauf warten, dass sie nach Hause fahren können. Wir setzen uns beide wieder an den Tisch, an dem wir vorher saßen und warten.
"Was machst du heute noch so?", fragt mich Lukas um die Zeit und die Stille zu überbrücken.
"Nichts besonderes. Und du?", frage ich ihn.
Er antwortet nicht sondern zuckt nur mit den Schultern. "Weißt du schon, welche Fraktion du morgen bei der Zeremonie wählen wirst?", fragt er mich leise und blickt beunruhigt um sich.
"Ja natürlich. Ich werde die Fraktion nehmen, die mir im Eignungstest empfohlen wurde. Welche denn sonst? Aber wir dürfen doch nun mal nicht darüber reden, das weißt du doch!", antworte ich flüsternd. Ich weiß, dass er neugierig ist. Und ich weiß auch, dass ich wirklich die Fraktion wählen werde, die mir empfohlen wurde. Aber ist das wirklich die richtige Entscheidung. Ja, es muss so sein!
"Ich wollte dir nur sagen, dass deine Wahl nicht mit deinem Vater zusammenhängen sollte. Ich weiß, was er dir antut und ich weiß auch, dass er dich unter Druck setzt, damit du zu den Altruan gehörst. Aber das musst du nicht! Du hast eine freie Wahl und wenn du dich entscheidest wegzugehen, dann kann das dein Vater auch nicht ändern, weil du ihn verlassen würdest. Und zwar für immer. Also hör auf dein Herz!"
Ich zucke zusammen. Zum ersten Mal hat er ausgesprochen, wie viel er wusste und was er davon hielt. Aber er kennt meinen Vater nicht so gut wie ich. Er weiß nicht, dass er sonst keinen mehr hat. Aber er hat auch recht. Ich darf mich nicht so beeinflussen lassen. Ich muss meine eigenen Entscheidungen treffen! Und die wird ganz bestimmt nicht so ausfallen, wie mein Vater es gerne hätte. Denn das, und das schwöre ich mir, wird nie wieder passieren, höchstens, weil ich es ebenfalls so möchte. Ich werde mir nie wieder von irgendjemanden seinen Willen aufzwingen lassen!
Als ich ihm nicht antworte, sondern nur leer vor mich hinstarre sagt er: "Komm, lass uns gehen. Wir werden hier eh nicht mehr..."
Er soll seinen Satz wohl nicht beenden, denn eine hochgewachsenen blonde Frau kommt herein und beginnt eine Rede zu halten. Wie sehr sie sich doch freuen würde, bald so viele neue Initianten begrüßen zu dürfen. Anhand ihrer blauen Kleidung erkenne ich, dass es sich um eine Ken handelt. Ich meine, auch ihren Namen schon irgendwo mal gehört zu haben. Jeanine Matthews. Ich kenne sie. Sie ist eine der Führungspersonen der Ken und hat somit einen ziemlich hohen Rang.
Sie redet lange, aber letztendlich kommt nicht mehr als ein bisschen Werbung für ihre neue Fraktion heraus.
Endlich dürfen wir gehen. Ich stoße einen erleichterten Seufzer aus. Ich habe den letzten Schultag überstanden, ohne, dass sie etwas gemerkt haben. Selbst Lukas weiß es nicht. Nur mein Vater. Es war ihm von Anfang an klar, dass ich nicht so war, wie er das gerne hätte. Ich musste es ihm versprechen, dass ich niemandem davon erzähle, denn sonst würden sie mich jagen. Ich darf mein Leben hier nicht aufgeben und dennoch muss ich das tun, denn ich muss die schützen, die mir etwas bedeuten. Lukas darf wegen mir nicht in Gefahr geraten. Deswegen muss ich stark sein. Deswegen muss ich die Fraktion verlassen. Weil ich anders bin. Das besondere an mir ist, dass ich mir in sämtlichen Simulationen bewusst bin, dass es nicht die Realität ist. Somit bin ich für niemanden kontrollierbar, erst recht nicht für die Regierung. Ich stelle somit eine Gefahr für sie dar. Und Gefahren sollen beseitigt werden. Außerdem bin ich anpassungsfähiger. Ich gehöre nicht nur zu einer Fraktion, sondern zu mehreren. Ich bin ein Unbestimmter.
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Tobias' Geschichte
FanfictionDiese Story beschreibt Tobias' Leben von dem Test bis zum Treffen mit Tris. Ich habe versucht mich in seine Gefühlswelt einzufinden und seine Beweggründe und Gedanken darzustellen. Aber lest selbst!