2. Kapitel

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Nach dem Mittagessen beginnen die Tests.

Wir sitzen in der Cafeteria an langen Tischen, und die Prüfer rufen nacheinander zehn Namen auf, einen Namen für jedes Prüfungszimmer. Ich sitze neben Lukas, meinem Nachbar. Er ist einer meiner engsten Freunde. Sofern man unter Altruan wirklich enge Freundschaften schließen kann. Er kennt ich in und auswendig. Er weiß die meisten meiner größten Geheimnisse und er weiß von meinem Vater. Das ahnt sonst keiner. Wir versuchen so wenig Zeit wie möglich damit zu verschwenden, uns damit zu befassen, dass mein Vater so ist wie er ist. Das klappt jedoch nicht besonders gut. Aber er stellt keine Fragen. Ich frage mich, wie oft ich mit irgendwelchen Verletzungen zu ihm kam und er mir half sie zu verbergen. Ich habe ihm zwar nie wirklich erzählt woher sie stammen, aber Lukas ist nicht blöd. Er weiß es mit großer Sicherheit oder hat zumindest den Verdacht, dass mein Vater dahinterstecken könnte. Lukas war es auch, der mir über den überraschenden Tod meiner Mutter hinweggeholfen hat. Er ist ein wirklich guter Freund von mir geworden. Mein bester Freund.

Die meisten Prüfer sind Altruan, weil sie als unbestechlich gelten. Deswegen bilden wir auch die Regierung. Aber es sitzen auch ein Ken und ein Ferox in den Prüfungsräumen. Es darf keine Fraktion von einem eigenen Fraktionsmitglied geprüft werden. Das sind die Regeln.

Mein Blick wandert zu den Ferox, die sich laut unterhalten, lachen oder Karten spielen. An anderen Tischen sitzen die Ken. Sie sprechen gerade angeregt über Bücher und Zeitungen, wie immer mit einem unersättlichen Wissensdurst. Die Amite sitzen auf dem Fußboden der Cafeteria und spielen Klatschspiele und sagen dazu Reime auf. Wenn eine von ihnen ausscheidet, muss sie sich in die Mitte des Kreises setzen. Sie lachen viel und scheinen Spaß daran zu haben. Am Tisch daneben sitzen die Candor. Sie scheinen über irgendetwas zu streiten, obwohl dieser Streit nicht sehr wichtig zu sein scheint, da sie die ganze Zeit lächeln.

 Nur wir Altruan sitzen da und warten still darauf, dass wir aufgerufen werden.

 

Die nächsten Namen werden aufgerufen. Es sind zwei Ferox, zwei Candor, zwei Amite, zwei Ken und dann: "Von den Altruan: Tobias Eaton und Lukas Grey."

 Wir stehen auf und gehen zum Ausgang. Mir kommt es vor, als ob mir das Herz gleich in die Hose rutscht, deswegen rufe ich mir nochmal all das ins Gedächtnis, was mein Vater mir eingeredet hat. Ich musst ruhig bleiben, sonst merken sie etwas, aber ich darf auf keinen Fall versagen.

 Hinter der Cafeteria reihen sich zehn Räume aneinander. Sie werden nur für die Eignungstests benutzt, deswegen habe ich noch nie einen von ihnen von innen gesehen. Die Wände scheinen nicht aus Glas, so wie bei den übrigen Schulräumen, sondern durch Spiegel abgetrennt zu sein. Im Spiegel sehe ich ein wenig blass, aber entschlossen aus. Ich schaue Lukas noch ein letztes Mal an und nicke ihm zum Abschied zu. Dann öffne ich die Tür und betrete den dahinterliegenden Raum. Dort wartet eine Ferox auf mich. Sie blickt recht freundlich und nicht ganz so streng wie die übrigen Mitglieder ihrer Fraktion. Sie hat dunkle, schräg stehende Augen, dunkle Haare und trägt ein schwarzes Top mit einer Jacke darüber und Jeans.

 Der komplette Raum besteht aus Spiegeln. Schüchtern schaue ich mich an, denn bei den Altruan ist Eitelkeit verboten, weswegen mir nicht erlaubt ist, mich in den Spiegeln zu betrachten. Ich kann mich von allen Seiten sehen. Das Licht strahl hell und in der Mitte des Raums steht ein Sessel, der einem Stuhl beim Zahnarzt ein wenig ähnelt. Daneben ist ein Apparat. Er wirkt ein wenig einschüchternd auf mich. Was nun passieren wird hat mir Vater schon genau erklärt. Ich werde an den Apparat angeschlossen werden und muss eine durchsichtige Flüssigkeit trinken, woraufhin ich in der Simulation wieder aufwachen werde.

 "Setz dich in den Stuhl.", sagt sie. "Ich bin Tori."

 Ich setze mich und lehne mich zurück. Der Stuhl ist nicht sehr bequem. Tori kümmert sich um den Apparat rechts von mir und ich versuche währenddessen mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Meine Finger zittern ein wenig und ich klammere mich deswegen an den Saum meines T-Shirts. Sie beginnt mir Elektroden an die Stirn zu kleben und verbindet diese dann mit einem Kabel an dem Apparat. Anschließend klebt sie sich ebenfalls Elektroden an die Stirn und verbindet diese ebenfalls mit dem Apparat. Dann gibt sie mir das Fläschchen mit der durchsichtigen Flüssigkeit und sagt: "Trink das!"

 Widerspruchslos kippe ich die Flüssigkeit hinunter. Sofort fallen mir die Augen zu.

 

  Als ich die Augen wieder öffne befinde ich mich ganz alleine in der Cafeteria. Vor mir auf dem Tisch stehen zwei Körbe. In dem einen liegt ein Stück Käse, im anderen ein Messer, das etwa die Länge meines Unterarms besitzt.

 Eine kalte, herzlos klingende Stimme fordert mich auf: "Wähle!"

Sie kommt mir bekannt vor, aber ich kann sie niemanden bestimmten zuordnen.

 Das Messer reizt mich sehr, doch ich erinnere mich an die Worte meines Vaters. Er hatte recht, es ist alles nicht real. Ich nehme den Käse in die Hand. Er fühlt sich ein wenig klebrig an. Plötzlich sind die beiden Körbe verschwunden. Ich bin wieder ganz allein. Als ich mich umdrehe steht ein armes kleines Mädchen vor mir. Es trägt ein weißes, verdrecktes Kleid und hat große, kugelrunde Augen mit denen es mich hungrig anschaut. Verschüchtert fragt es mich: "Schenkst du mir den Käse? Ich habe doch so großen Hunger und schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Bitte!"

 Sofort halte ich ihr den Käse hin. Ich merke, dass meine Hand zittert. Sie nimmt ihn unsicher entgegen.

 "Dankeschön", haucht sie dankbar. Dann verschlingt sie den Käse mit großen Bissen.

 "Ich muss los", sagt sie. "Sonst wird meine Mama böse und macht sich sorgen."

 Als sie sich umdreht und schnell weggeht kommt ein großer Hund. Er bellt und knurrt.

 Ich darf mir keinen Fehler erlauben. Ich muss mich auf den Hund stürzen, aber ich darf es nicht zu früh, aber auch nicht zu spät machen. Sonst muss das Mädchen für meinen Fehler bezahlen.

 Der Hund setzt in großen Sprüngen auf das Mädchen zu. Gedanklich zähle ich bis drei, dann sprinte ich los. Ich sehe sein weit aufgerissenes Maul mit einer langen Reihe von Zähnen. Mir zittern die Knie und ich versuche nicht hinzusehen, als ich mich auf ihn stürze. Sein Fell fühlt sich weich unter meinen Fingern an. Ich schlage hart auf dem Boden auf. Auf einmal ist der Hund weg, auch das Mädchen ist nicht mehr da. Ich bin wieder allein. Über mir flackert eine der Lampen und ich schließe meine Augen. Mein Körper fühlt sich schwer an.

 

 Als ich die Augen wieder aufschlage sehe ich Tori's Gesicht vor mir. Sie schaut mich an.

 "Das war's. War doch gar nicht so schlimm, oder?", fragt sie.

 Ich kann nur nicken. Mir sitzt ein Kloß im Hals und ich muss ihn erst noch herunterschlucken.

 "So, du kannst gleich gehen, nachdem ich dir die Elektroden abgemacht habe", sagt sie. "Nur noch eine Frage: warst du dir in der Simulation bewusst, dass es nicht real war?"

 Ich weiß was ich antworten muss. Trotzdem zittern mir die Knie und ich hoffe, dass sie den Schwindel nicht bemerkt, aber sie scheint viel zu sehr mit dem Apparat beschäftigt  zu sein, als dass sie noch sonderlich auf mich geachtet hätte.

 "Nein", sage ich und bemühe mich mein Stimme fest klingen zu lassen.

 "Gut. Dann darf ich dir hiermit nun mitteilen, dass du als Ergebnis Altruan hast. Viel Spaß morgen bei der Zeremonie." Dann lächelt sie mir zum Abschied zu und ich gehe erleichtert aus dem Raum. Die ganzen Spiegel machen mich noch nervös.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt