Der Zug rattert dahin. Wir fahren schon seit fast einer halben Stunde und der Rücken beginnt mir zu Schmerzen. Vor mir steht ein ehemaliger Ken mit ordentlichem Mittelscheitel und einer Brille. Ich habe nie verstanden warum nahezu alle Ken Brillen tragen. Ich bezweifle, dass wirklich so viele Menschen aus einer Fraktion eine Sehschwäche haben.
Er sieht mich an. Als ich aufstehe, streckt er mir seine Hand entgegen.
"Ich bin Eric.", sagt er. In dem Moment, als ich seine Hand ergreifen will, ruft jemand aus den vorderen Wagen: "Sie springen ab!"
Er hat recht. Der Zug hat sich verlangsamt und die Initianten springen auf ein Hausdach. Ich blicke hinaus und bemerke, dass wir uns in ungefährer Höhe des siebten Stockwerks befinden müssten. Zwischen dem Hausdach und den Schienen klafft jedoch eine Lücke. Als ich hinunterblicke kann ich den Boden erkennen und mir wird schlecht. Ich kann mich plötzlich nicht mehr bewegen und nicht mehr klar denken. Ich bin wie erstarrt. Alles fängt an sich zu drehen.
Erst als der Ken mich anspricht, stoppt die Erstarrung und die Hilflosigkeit. "Wir müssen gleich springen.", sagt er. Ich nicke nur, denn ich habe einen Kloß im Hals.
Ich werde springen. Ich muss springen. Ich werde sterben. Aber lieber tot als fraktionslos zu sein.
Das Hausdach kommt immer näher. Als es kurz vor uns ist gehe ich an das hintere Ende des Wagens und nehme Anlauf. Dann springe ich. Ich bin schwerelos. Dann krache ich hart auf das Dach des Hauses. Meine Beine knicken unter mir weg und ich falle hin. Es schmerzt ein bisschen doch ich ignoriere das. Dann stehe ich auf und klopfe mir den Staub von der Hose. Sie ist an den Knien ein wenig zerrissen, doch das macht mir nichts aus.
Ein Junge steht am Rand des Daches und schaut hinunter. Er hat Tränen in den Augen. Anscheinend hat es jemand nicht geschafft. Eric steht neben mir. Er sieht aus, als hätte ihm der Sprung nicht viel ausgemacht. Nur seine Haare sind ein wenig zerzaust.
Der Junge am Rand steht auf, als ein Erwachsener auf ihn zukommt.
"Lass ihn in Frieden ruhen", sagt er.
"Nein!", widerspricht der Junge. Seine Kleidung zufolge ist er einer der Candor. "Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich gut auf ihn aufpassen werde und das habe ich nicht getan."
"War er dein Bruder?", fragt der Erwachsene. Er scheint einer der Anführer der Ferox zu sein. Dabei verzieht der missbilligend seinen Mund.
"Ja", schluchzt der Junge nur. "Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich auf ihn achtgeben werde und ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich habe es nicht verdient ohne ihn hier zu sein." Er blickt auf einmal entschlossen drein. Bei seinem Anblick wird mir ganz komisch. Ich weiß, dass er etwas vorhat. Ich weiß nur noch nicht was.
"Tu, was du tun musst. Von uns wird dich keiner zurückhalten", sagt der Anführer lediglich.
Der Junge schaut sich nochmal kurz um, tritt an die Kante heran und stürzt sich in die Tiefe. Sein Körper schlägt so laut auf dem Betonboden auf, dass wir es selbst noch in solcher Höhe hören können.
Der Anführer wendet sich uns zu. "Hallo. Mein Name ist Max. Ich bin einer der Anführer der Ferox." Er hat schon einige tiefe Furchen in seiner dunklen Haut und sieht schon etwas älter aus. Es scheint ihn kalt zu lassen, dass gerade hier jemand Selbstmord begangen hat.
"Einige Stockwerke unter uns ist der Eingang zum Hauptquartier der Ferox. Entweder ihr traut euch von hier runter zu springen oder ihr seid von nun an fraktionslos. Die Fraktionswechsler haben das Vorrecht, als erste springen zu dürfen. Viel Spaß", sagt er mit einem Lächeln. Ist er denn völlig verrückt geworden?! Wenn wir springen, werden wir das nicht überleben. Wir werden als Leichen auf dem Beton enden, ähnlich wie die beiden Candor!
Ich scheine nicht der Einzige zu sein, der so denkt. Alle haben einen leicht verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht und zwar nicht nur die Fraktionswechsler. Auch die Initianten der Ferox scheinen nicht besonders wild darauf zu sein, von einem Dach zu springen.
"Also, wer fängt an?", fragt er mit einem fiesem Lächeln im Gesicht. Er schaut uns einen Moment lang an. Dann deutet er auf einen kleinen, drahtig aussehenden Jungen von den Amite. Er wirkt hier irgendwie fehl am Platz, so als würde er nicht richtig hierher passen. Ich atme nur leise auf und bin froh darüber, dass er mich nicht gewählt hat. Der Junge starrt ihn immer noch fassungslos an.
"Ist denn da unten so was wie Wasser oder...oder...", stottert er.
"Das wirst du wohl selbst herausfinden müssen. Entweder du springst jetzt oder du bist fraktionslos. Und wenn du dich beeilen könntest wäre das auch sehr hilfreich, wir haben schließlich nicht den kompletten restlichen Tag Zeit. Also, wenn du dann so freundlich wärst und vom Dach springen würdest..."
Der Junge bewegt sich keinen Zentimeter. Er schüttelt bloß den Kopf und ihm steigen Tränen in die Augen.
Ich kann es verstehen. Vermutlich würde es mir an seiner Stelle genauso gehen. Nein! Ich darf kein Mitgefühl haben. Ich kenne diesen Jungen nicht. Ich will ihn nicht kennen. Mir ist sein Schicksal egal. Ich bin nicht für ihn verantwortlich und ich werde es auch nicht sein.
"Dann bist du jetzt raus. Sieh zu, wie du von hier verschwindest. Spring in den nächsten Zug oder stürz dich vom Dach. Von mir aus kannst du auch hier oben verhungern. Ist mir egal. Du bist jetzt offiziell fraktionslos. Herzlichen Glückwunsch!"
Wie herzlos kann ein Mensch bloß sein? Aber so sind die Ferox. Hier wird man knallhart aussortiert.
"Wer wird wohl unser nächster Springer sein?" Eine Weile blickt er schweigend in die Runde. Alle schauen zu Boden, doch ich zwinge mich dazu aufzublicken. Er fährt mit seinem Finger über unsere Köpfe hinweg. Ich schließe die Augen. Anscheinend kommt sein Finger langsam zum stehen, denn ich höre, wie einige erleichtert ausatmen.
"Du! Du bist unser nächster erster Springer! Ich wünsche einen tiefen Fall."
Ich öffne die Augen. Mich blendet das Licht. Dann sehe ich seinen Finger und die Person, auf die er zeigt.
Diese Person bin ich. Der Finger zeigt auf mich.
![](https://img.wattpad.com/cover/17173853-288-k226163.jpg)
DU LIEST GERADE
Tobias' Geschichte
FanfictionDiese Story beschreibt Tobias' Leben von dem Test bis zum Treffen mit Tris. Ich habe versucht mich in seine Gefühlswelt einzufinden und seine Beweggründe und Gedanken darzustellen. Aber lest selbst!