9. Kapitel

811 30 2
                                    

Der Rest des Essens verläuft schweigend. Nicht besonders angenehm, aber besser als von diesem Ken ausgequetscht zu werden. Es gibt Hamburger. Glaube ich zumindest. Ich meine, dass es der Ken so genannt hat. Oder doch nicht? Ist ja auch egal. Ich schaue ihm einfach nur zu, wie er es macht und tue es ihm gleich. Es sieht merkwürdig aus. Ein Brötchen, in dessen Mitte ein Stück Fleisch steckt. Darüber liegt ein Salatblatt und darauf eine merkwürdige rote Soße. Sie tropft langsam am Rand des Brötchens herunter. Als ich es probiere, schmeckt es gar nicht mal so schlecht. Ein wenig wie.... Diesen Geschmack kann ich nicht beschreiben. Ich habe noch nichts ähnliches gegessen. Aber auf jeden Fall nicht schlecht.

Nach dem Essen führt uns Amar wieder einen schmalen Gang hinunter. Das scheint hier das reinste Labyrinth zu sein! Werde ich mich hier jemals zurecht finden? Hoffentlich. Er biegt um die nächste Kurve und plötzlich stehen wir in einem kleinen Raum. An seinen Seiten stehen zwölf Betten.

"Hier ist der Schlafraum. Daneben sind die Duschen und Toiletten. Ihr werdet getrennte Duschen und Toiletten haben, aber den Rest müsst ihr euch teilen. Hier noch ein paar Grundsätzliche Regeln: Um acht Uhr findet das Training statt. Wer nicht pünktlich im Trainingsraum erscheint wird bestraft. Das Training ist täglich von acht bis sechs Uhr, ihr habt zum Mittagessen eine Pause. Nach dem Training könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt. Ihr habt auch zwischen den verschiedenen Initiationsphasen genug Freizeit. Das Gelände dürft ihr nur mit älteren Ferox verlassen. Den Rest werde ich euch morgen beim Training erklären. Geht jetzt schlafen."

Mit diesen Worten lässt Amar uns allein. Was meint er mit "tun und lassen, was ihr wollt"? Ich habe seit Jahren nicht mehr das gemacht, was ich wollte. Vielleicht wird es wirklich langsam mal Zeit, dass ich nicht nur an die anderen, sondern auch mal an mich denke.

Jeder der Initianten geht zu einem Bett. Ich bleibe unschlüssig in der Mitte stehen. Es scheinen keine Betten mehr frei zu sein. Dann entdecke ich doch noch eins. es steht in der hintersten Ecke und scheint ein wenig dreckiger und älter zu sein als die anderen. Doch auch hier liegt eine neue Hose und ein neues Shirt von den Ferox oben drauf. Alle nehmen ihre Kleidung und gehen sich umziehen, nur ich bleibe dort stehen. Dann packe auch ich meine Sachen und folge ihnen in den Waschraum der Jungen. Er ist nicht sonderlich groß und besteht aus gekachelten, ehemals weißen Wänden, die inzwischen eine etwas gelbliche Färbung angenommen haben. Schnell ziehe ich mich um. Die Sachen sind sehr enganliegend und betonen nur noch mehr meinen dürren Körper. Trotzdem gefallen sie mir. Sie sind elastischer als die Kleidung der Altruan, die lediglich aus grauem Leinenstoff bestand.  Ich betrachte mich einen Moment lang im Spiegel. Auch das ist jetzt erlaubt. Die Altruan haben nämlich eine irrsinnige Regel, die besagt, dass man sich nur zum Haareschneiden im Spiegel anschauen darf. Ich habe mich immer gewundert, wie sehr ich mich in dieser Zeit verändert habe. Doch nach dem Schneiden sah ich wieder aus wie der Junge, der sich das letzte Mal im Spiegel gewundert hat, dass er sich verändert hätte. Also hatte ich immer wieder den selben Jungen gesehen und auch heute blickt er mir aus dem Spiegel entgegen. Die spitze Nase, die abstehenden Ohren, die schmale Ober- und die volle Unterlippe. Genauso wie beim letzen Mal. Nicht wirklich erwachsen, eher wie ein Kind.

Als ich zurück in den Schlafraum gehe, liegen die meisten schon in ihren Betten. Schnell gehe auch ich zu meinem. Es knarz als ich mich hineinlege und das Lattenrost drückt gegen meine Wirbelsäule. Dann wird das Licht aus gemacht.

Ich höre die anderen atmen. Leise. Ruhig. Nahezu im Einklang. Nur hin und wieder erklingt ein unregelmäßiger Atemzug, der verrät, dass jemand noch wach ist. Ich höre ein leises Schluchzen. Wie kann er nur seine Familie vermissen? Wahrscheinlich hatte derjenige ein schöneres Leben als ich. Ich sollte froh sein, dass anderen dieses Los erspart geblieben ist.

Die Atemzüge werden unnatürlich laut, brechen wie Wellen auf mich ein. Ich kann es kaum noch aushalten. Selbst als ich mir die Ohren zuhalte, höre ich sie. Sie sind wie Tiere, lauernd auf den perfekten Moment um anzugreifen. Um zu töten. Nur gut, dass ich bei den besten Kämpfern der Stadt bin.

Endlich werden die Atemzüge leiser, verschwimmen zu einem undeutlichen Rauschen. Ich falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

"Schön, dass ihr es alle geschafft habt, pünktlich hier zu sein."

Amars Stimme klingt viel zu laut. Sie hallt in der großen Trainingshalle, in der wir stehen.

"Die erste Initiationsphase werdet ihr von den Initianten der Ferox getrennt absolvieren. Sie zielt besonders auf körperliche Kräfte. Wir werden eure Fortschritte messen und ein Ranking erstellen..."

"Wofür ist das Ranking?", unterbricht ein schlaksiger Junge seinen Vortrag. Er sieht ganz nett aus.

"Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Ihr werdet nach der Reihenfolge eure Jobs bei den Ferox aussuchen. Zweitens: Nur die Besten werden in unsere Fraktion aufgenommen.

Bevor ihr mich wieder unterbrecht lasst mich ausreden, okay? Wir haben insgesamt acht Ferox-Anfänger und zwölf Fraktionswechsler. Nach der ersten Initiationsphase müssen vier gehen. Diese werden fraktionslos und müssen umgehend das Gelände verlassen. Nach der zweiten Initiationsphase, die hauptsächlich auf eure Gefühle eingeht, werden wir erneut ein Ranking machen. Die zweite Phase geht doppelt so stark in die Wertung ein wie die erste Phase. Die dritte Initiationsphase zielt auf das Mentale. Sie zählt wieder doppelt so viel wie die zweite. Nach dem abschließenden Test müssen sechs Leute gehen. Nur die zehn besten Initianten werden aufgenommen. Weil es am Ende ziemlich schwer ist, sein Ranking zu verbessern, solltet ihr euch anstrengen."

Er lässt ein paar Sekunden lang seine Worte auf uns wirken. Hat er wirklich gesagt, dass zehn von uns bleiben und der Rest fraktionslos wird?! Ich habe zwar keine Angst, aber ich will auch nicht fraktionslos werden. In dem Moment gebe ich mir ein Versprechen. Nie wieder als schwach oder ängstlich bezeichnet zu werden. Egal von wem. Ich werde gut sein. Nein. Gut sein reicht hier nicht. Ich werde verdammt nochmal der Beste sein. Und es allen beweisen. Am meisten ihm. Meinen Vater. Ich will nie wieder vor ihm knien müssen. Ich will ihn nie wieder sehen. Auch, wenn das heißt das ich jemand anderes werden muss. Ein anderer Mensch. Doch lieber anders als ängstlich und feige. Und verletzbar.

Tobias' GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt