| 1 | ᴇᴍᴍᴀ | 𝙏𝙝𝙚 𝙢𝙖𝙞𝙣 𝙖𝙩𝙩𝙧𝙖𝙘𝙩𝙞𝙤𝙣 𝙖𝙩 𝙩𝙝𝙚 𝙥𝙞𝙘𝙩𝙪𝙧𝙚 𝙨𝙝𝙤𝙬

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I can see me,
Can you see me?
The main attraction
At the picture show.

Ich eile durch die unzähligen Touristen, die an diesem Vormittag Covent Garden bevölkern. Covent Garden hat sich längst von dem malerischen Blumenmarkt der Eliza Doolittle in einen gigantischen Albtraum amoklaufender Globalisierung verwandelt: Ein Ort, an dem alles angeboten wird, was Touristen zu kaufen gewillt sind, und der von allen halbwegs vernünftigen Bewohnern der Stadt gemieden wird. Natürlich suchen auch die Angestellten, die in der Gegend arbeiten, die umliegenden Pubs, Restaurants und Imbissstände auf, aber ansonsten verirrt sich kaum ein Londoner hierher, es sei denn, um etwas zu kaufen, das es nirgendwo sonst gibt.

Und das gibt es zum Beispiel in dem Tabakladen, in dem mein Vater angeblich meine Mutter kennengelernt hatte. Der Laden befindet sich am südlichen Ende der Courtyard Shops, und auf meinem Weg durch das Gedränge komme ich an ihm und an allen erdenklichen Variationen von Straßenkünstlern vorbei: an solchen, die als Statuen posieren, an Zauberern, Einradjongleuren und Zweimannbands bis hin zu einem aufgedrehten Luftgitarristen. Auf praktisch jedem Fleckchen, das nicht von einem Kiosk, einem Tisch oder Stühlen eingenommen wird und wo die Touristen, die Eis am Stiel, Ofenkartoffeln oder Falafel verzehren, ein bisschen Raum lassen, wetteifern die Künstler um Spenden. Genau der Ort, vor dem ich selbst am liebsten schreiend flüchten würde, um mir ein stilles Plätzchen zu suchen, was wohl nur in der Kirche am südwestlichen Ende des Platzes sein kann, der zum Covent Garden gehört.

In den Courtyard Shops ist es nur unwesentlich erträglicher. Hier befinden sich hauptsächlich teure Nobelläden, und es verirren sich nicht allzu viele der allgegenwärtigen Teeniegrüppchen und Turnschuhtouristen hierher. Sogar die Straßenkunst ist hier von höherer Qualität. In einem tiefer gelegenen Hof spielt vor einem Restaurant mit Sitzgelegenheiten im Freien ein Geiger mittleren Alters zu Orchesterbegleitung aus einem Gettoblaster auf.

Ich renne im Zickzack über den Platz, weiche dem chaotischen Treiben aus und spüre, wie mir ein nervöser Schweiß an allen möglichen, höchst unglamourösen Stellen ausbricht.

Ich schwitze, weil ich zu spät dran bin. Und nicht seinetwegen.

Jemima, meine Mitbewohnerin, professionelle Yoga-Lehrerin und Motivationscoach, ist der Meinung, dass ich einfach nie über ihn hinweggekommen bin, aber das ist Schwachsinn.

Ich bin so was von über ihn hinweg. Schon lange.

Als ich das Royal Opera House passiere und weiter Richtung Theater Royal Drury Lane hetze, werfe ich einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr.

Verdammt, verdammt.

Das Gebäude ist das jüngste in einer Reihe von vier Theatern, die an derselben Stelle gebaut wurden, von denen das früheste aus dem Jahr 1663 stammt, was es zum ältesten noch genutzten Theaterstandort in London macht. Gelebte Theatergeschichte, sozusagen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden hier zahlreiche West-End-Premieren von Rodgers-und-Hammerstein-Musicals statt: Oklahoma!, South Pacific und The King and I. Ein weiterer erfolgreicher US-Import war My Fair Lady, das über fünf Jahre gespielt wurde.

Seit Mitte der 80er Jahre ist das Haus die Heimat großer Musical-Produktionen wie 42nd Street, Miss Saigon und Oliver!. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Mal hier. Zusammen mit meinen Eltern besuchte ich eine Vorstellung von Miss Saigon. Nachdem der Vorhang zum letzten Mal gefallen war, beschloss ich, Musicaldarstellerin zu werden. Da war ich sieben Jahre alt. Nun würde ich das Theater erneut betreten, diesmal allerdings als Hauptdarstellerin. Der Zuschauerraum umfasst bis zu 2000 Besucher, und bei dem Gedanken daran, vor so vielen Menschen aufzutreten, bricht mir erneut der Schweiß aus. Dazu kommt noch der Erfolgsdruck, der auf uns allen lastet. Um jeden Abend das Theater bis auf den letzten Platz zu füllen, muss unsere Show ein Renner werden. Am Broadway war das Musical ein Überraschungshit, allerdings lief es dort in einem deutlich kleineren Theater mit bislang unbekannter Besetzung.

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