In der Ganzheit liegt die Kraft (2)

7 1 0
                                    

„Behalte den Rest." Sie hatte sich hingehockt, umfasste seine Hand zu einer Faust und lächelte ihm zu. Ein Kind gehörte nicht auf die Straßen. Ein Kind sollte auch nicht arbeiten. Es sollte seine Kindheit haben, Blödsinn machen und lernen zu Leben. Melia stand wieder auf und drückte ihm die Zügel in die andere Hand. Bevor er die Stute mit sich nahm, band sie noch die restlichen Beutel los, zog den Sattel für ihn ab und legte ihn zu den anderen auf das Geländer der Veranda. Die Beutel warf sie sich über die Schulter und schritt los. Kläffend sprang der Wachhund an seiner Kette hoch. Sein Sabber tropfte auf die Veranda. Seine Klauen schabten auf dem Boden und sein Gekläffe drang durch die Straße. Melia schritt unbewegt an ihm vorbei. Wie die Wölfe, dachte sie, er hatte nur Hunger. Jeder hatte Hunger. Hunger nach Rache. Hunger nach Liebe. Hunger nach Glück.

Über der Tür prangte ein riesiges Schild mit der Aufschrift „Smoking Barrel". Es war leicht verrostet und schwankte quietschend im leichten Wind. Das Wirtshaus war in keinem besseren Zustand, doch die Einstiege Pracht ließ sich noch sachte erahnen. Die meerblaue Farbe perlte von den Dielen ab und die Zwischenstücke des Geländers trugen noch gering ihre schwarze Farbe, gemischt mit rotem Rost. Einige Girlanden von vergangenen Feiertagen hingen noch lustlos aus den Fenstern hinaus, dessen Scheiben durch Wind und Staub zerkratz waren, sodass kein Auge mehr hindurch blicken konnte. Melia stieß mit einem Fuß die Tür auf, durch die zuvor der Elb geschritten war. Ein Schwall Lautstärke wallte ihr entgegen. Nur kurz durchzuckte sie die Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten, bevor sich ihr Geist wieder an die Laute von anderen Lebewesen gewöhnte. Der Wald war stiller gewesen. Einsamer. Leichter. Hier jedoch drangen von überall Geräusche an ihr Ohr. Ihr Blick schweifte durch die Schenke. Nach links und rechts erschloss sich ein riesiger Saal mit unzähligen Tischen und Stühlen. Überall saßen gedrängt Elben und Barbaren. Getrennt oder zusammen. Sich küssend oder feindlich einander anstarrend. Alle waren sie schäbig angezogen. Meist in dunklen Farben. Einige hatten rasierte Haare, andere trugen sie verknotet bis zu den Hüften. Ein paar der Barbaren hatten sich falsche Ohren über ihre eigenen gestülpt, um als Elb durchzugehen. Während man bei einigen Elben noch die frischen Schnitte erkennen konnte, durch welche sie sich von ihren gespitzten Ohren getrennt hatten.

Der Saal war leicht verraucht und überall roch es nach alkoholisierten Getränken, Drogen und Rauch. Melia blickte nach vorne und erkannte in dem riesigen Gewirr die Bar. Sie war, wie alles andere auch, aus Holz und schien mit jedem Gast, der sich dagegen lehnte, weiter Schaden zu nehmen. Selbst die Arbeitsfläche war mit unzähligen Rissen übersäht, als hätte sich ein Wurm durchs Holz gefressen. Wenn sie es Recht sah, steckte auf der rechten Seite noch eine anschauliche Axt im Holz fest. Melia schritt auf die Frau zu, welche hinter dem Tresen hin und her lief, immer wieder neues Bier einschenkend und manche Männer, die etwas zu laut wurden, anschreiend. Hin und wieder wies sie noch eines der Bedienungsmädchen zurecht, die eifrig zwischen den Tischreihen umher huschten.

Ihr Gepäck über der Schulter, stieß Melia an die Theke, lehnte sich gegen eine der riesigen Holzplatten und wartete. Immer wieder lief die Barfrau an ihr vorbei. Mal mit zwei Krügen in der Hand, mal einen Silberling in die Luft werfend. Sie hatte hellblaue, an einigen Stellen leicht grünliche Haare, welche auf beiden Seiten bis zur Haut abrasiert waren. Ein Streifen an langen Haaren hatte sie an der Oberseite ihres Kopfes stehen gelassen, sodass die üppigen Strähnen auf ihre Schultern flossen. Ihre Ohren traten leicht bläulich gefärbt, spitz unter ihren Haaren hervor. Auf ihrer Nase, waagerecht zu ihren Augen prangten zwei dünne tätowierte Striche, die sie als erwachsene Wasserelbin auswiesen. Sie war etwas fülliger und nach Melias Einschätzung um die 25 Jahre alt. Die Prinzessin ließ sich auf den letzten freien Hocker sinken, die direkt vor dem Tresen standen. Neben ihr auf den rot gepolsterten Hockern saßen mehrere schwer gebaute Männer. Vor ihnen stapelten sich unzählige Bierkrüge und bei einigen auch noch Holzschalen, gespickt mit Resten des Abendessens. Die Krüge derweil waren bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken. Nur das, was sie in der Hand hielten, war noch einigermaßen gefüllt. Mit einem lauten Schrei machte ein Barbar zwei Stühle von ihr Entfernt bemerkbar, dass sein Glas leer war und er neues benötigte. Das leere Gefäß schlug er auf das Holz, sodass der Tresen leicht knackte und vibrierte. Melia konnte seinen Atem bis zu sich riechen, ebenso wie seinen Schweiß. Grimmig starrte er mit roten Augen zu ihr herüber. Alkoholsüchtig.

KönigstochterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt