Des Raches Sinn ist nicht der Gemeinschafts Schützling (1)

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                                                 Spätherbst,3.123 nach dem Erwachen der Götter

Tabon drückte sich durch die Massen von dreckigen Klamotten und stinkendem Schweiß. Ein hochgewachsener Elb stapelte sich vor dem anderen. Gekreische und Gegröle um ihn. Seine Sicht war durch die hochragenden Hüte, Arme und Hände versperrt. Er stellte sich auf seine vom Rennen schmerzenden Zehen, um über die Menge hinausschauen zu können. Der Platz, auf welchem er sich sowie hunderte andere eingefunden hatte, war umgeben von glatt geschliffenen Mauern und festlich geschmückten Häusern. Er drehte sich einmal um sich selbst und suchte verzweifelt den Palast. Zwischen all den Armen und Händen, mit ihren fetten Fingern konnte er ein hölzernes Podest in der Mitte des Platzes ausmachen. Ein Balken fuhr oben entlang, gehalten von weiteren an den Seiten. An ihm mehrere schwere Metallketten genagelt. Zwei, drei, vier Galgen konnte er ausmachen. An jedem stand ein Elb. Ein Barbar. Er konnte es nicht recht erkennen.

Ein Mann beugte sich neben ihm zu Boden. Es schien, als wollte er etwas aufheben, doch stieß Tabon dabei weiter schreiend fest in die Seite und presste ihn gegen den nächsten. Wie in einem wogenden Meer wurde der Barbar hin und her getragen, gestoßen getreten und zermürbt. Tabon stellte sich wieder auf Zehenspitzen. Er war keine fünf Schritte vorwärts gelangt. Eine kleine Lücke machte sich vor ihm auf. Blitzschnell drängte er sich durch den erstickenden Kleiderhaufen hindurch. Sein Kopf raste wild umher, doch denken konnte er nur eines. Er musste Melia finden. Wieder stieß ihm ein Mann in die Seite, als die Menge plötzlich erstarrte. Wollte er ihn zur Ruhe ermahnen? Eine Decke der Stille legte sich über den Hof. Eine männliche Stimme ertönte von einem Balkon knapp über der Holzvorrichtung. Doch er war zu weit entfernt, als dass Tabon ihn hätte auch nur in geringer Weise verstehen können. Die Massen um ihn herum schluckten jedes Geräusch, abgesehen von ihren eigens verursachten.

Tabon presste eine Dame zur Seite, die augenblicklich lautstark protestierte. Ihr schmaler Mund riss wie bei einem schreienden Küken auf und verlangte nach Rache und Befriedigung. Einen Blick verschwendete er noch an ihr aufgehübschtes Gesicht, bevor er sich weiter durch die Menge zwängte. Die Männer und Frauen um ihn herum hoben abrupt die Arme, ballten die Fäuste und schrieen einstimmig im Chor. Sie wollten die Person vor ihnen hängen sehen. Ein metallisches Klacken erklang. Der Henker hatte den Hebel gezogen und der erste Mann fiel in die Grube des Galgens, aufgehalten von der eisernen Metallkette. Die Menge verstummte wieder, als wollte sie die Erstickungslaute des Mannes in sich aufnehmen. Tabon presste kurz die Augen zusammen und drehte unbeabsichtigt den Kopf von der Szenerie ab. Es wäre ein schönerer Tod gewesen, hätte sich der Mann das Genick gebrochen.

Doch es war keine Zeit zum Verschnaufen. Tabon drängte sich weiter nach vorne. Die Menge grölte wieder, als der Körper an der Metallkette erschlaffte. Tabon zuckte zusammen. Noch einmal stellte er sich auf die Zehen und betrachtete, was vor ihm geschah. Er hatte sich inzwischen auf zehn Schritte genähert. Eingefroren stand er vor dem Galgen. Seine Augen empfingen das leichte Glitzern einer zierlichen Person. Mit hoch erhobenem Haupt stand sie an zweiter Stelle am Galgen. Das Sonnenlicht glitzerte auf ihren kurzen blonden Haaren. Ihr waren die Klamotten vom Leib gerissen worden, doch sie hielt ihre Würde aufrecht. Weder verdeckte sie ihre Scham noch ihre Brust. Ihr Oberkörper hob und senkte sich nervös, als ihre schimmernd blauen Augen Tabons Braune in der Menge einfingen.

Der Hof verstummte wieder, als der Mann auf dem Balkon erneut das Wort erhob. Tabon wandte seinen Kopf in die Richtung der Stimme. Der Mann hatte sich in teure Kleidung gezwängt. Die schwarzen Edelsteine glitzerten auf dem blutroten Stoff. Seine blonden Haare waren zu einem leichten Zopf gebunden, auf ihnen eine Krone sitzend. Seine von Kälte erfüllte Stimme sprach von den Taten, die die Schuldige getan hatte. Tabon verbesserte den König im Kopf. Die sie getan haben sollte. Er schnappte noch teils die Wörter Hochverrat und Mord auf. Sein Blick glitt wieder zu der Angeklagten.

„Melia." Tabons Stimme zitterte, doch ging in dem Gegröle der Menge unter, als sie lautstark ihre Zustimmung bekundeten. Tabons Atem ging schneller und schneller. Verzweifelt versuchte er einen Ausweg, einen Fluchtweg, zu finden, doch der Galgen war abgeriegelt und unzugänglich für jegliches Volk. Die Menge verstummte, als der Henker die von Metall umfasste Hand an den hölzernen Hebel setzte und herunter zog. Das Knacken dröhnte durch den Hof und prallte an den Hauswänden ab, immer und immer wieder erschallend. Wie in Zeitlupe sah Tabon dabei zu, wie sich die Plattform unter Melia absenkte und ihr den Boden unter den Füßen entriss. Ihr Körper sackte ab. Das schillernde Haar flatterte noch auf bezaubernde Weise durch die Lüfte, als ihr Kiefer hart auf die Metallkette traf. Unsanft fing sie ihren Sturz ab. Es knackte noch einmal laut, als ihr Genick brach. Tabon schrie, doch Melias Augen waren lange erloschen.

Licht traf auf seine zusammengepressten Lider. Sein Oberkörper schnellte bebend nach oben. In schnellen Stößen atmete er ein, fast vergessend die eingezogene Luft wieder freizugeben. Er griff sich mit der Rechten ans Herz und krallte sie schwer in sein zerschlissenes Hemd. Sein Herz raste, als hätte der Tod seiner Seele beigewohnt. Immer wieder fuhr ein schwindelerregendes Zucken durch all seine Muskeln, als würde er noch drei oder vier Mal mit Melia mitsterben. Er blinzelte fest und flüsterte leise ihren Namen. Der ranzige nasse Geruch der Zelle brachte seinen heißen Verstand wieder zurück in die Wirklichkeit. Er schluckte den Kloß in seinem Hals runter, der sich jedoch nur belastend auf sein Herz legte. Es fühlte sich an, als würde sein wichtigstes Organ in nur wenigen Augenblicken seine Arbeit für immer niederlegen. Mit der Linken stützte er sich hinter sich auf, sodass er zumindest etwas Halt in der Schwerelosigkeit um sich herum erhielt. Im müden Mondlicht glitzerte seine Zelle geheimnisvoll. Leise murmelte er vor sich hin, als wollte er sich selbst zur Ruhe reden. Es war nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum. Melia war noch am Leben. Melia würde ihn holen. Melia würde... Er hielt den Atem an und seufzte schwer. Ja, was würde Melia.

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