Jeder Ruf kommt zurück (1)

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Hört mir zu und schweigt für einen Moment und bedenkt meiner Worte.

Kinder, lasst mir euch erzählen, wenn die Göttin auf die Erde kommt.

Reife, lasst mir euch vortragen, wenn die Göttin den Gott findet.

Alte, lasst mir euch berichten, wenn die Göttin stirbt.

Lasst mich euch von der Göttin unterrichten.

Wenn sich die Kraft dem Ende neigt,

Wenn sich die Sonne senkt und der Mond spriest,

Wenn die Blätter sich zu Kronen flechten

Und die Göttin ihre Gestalt hervorgibt.

Nur dann, wenn sie ihren Gott gefunden hat.

Dann wird sie tanzen,

Wird sie glühen,

Wird sie heilen.

Nur dann, wenn sie ihren Gott gefunden hat.

Doch nur der Gott wird sie sehen,

Sie wird sein Antlitz nicht erkennen,

Bis sie dem Tode erliegt

Und wieder aufersteht aus ihrem eigenen Reich,

Um sich mit ihm zu vollenden.

Und das nur dann, wenn sie ihren Gott gefunden hat.

Nevas Erwachen

                                                            Spätsommer, 3.123 nach dem Erwachen der Götter

Elegant glitt sie aus dem ledernen Sattel des lackschwarzen Rappen.

„Du hast dir deine Pause verdient!", lobte Melia ihr Pferd und fing an die im glänzenden Abendlicht golden schimmernden Schnallen des Sattels zu öffnen, um ihr angesammeltes Gepäck zu lösen. Fast zogen sich die Striemen aus ihrer Hand, als sich das Gewicht auf ihren Arm senkte. Mit wenig Acht legte sie es auf den mit buntem Laub bedeckten Boden. Sie zog ihre Hand hervor und spielte feinfingrig mit den Ästen eines jungen Sprösslings, um ihn nach oben zu ziehen und ihn wachsen zu lassen. Einer der Äste breitete sich so weit über dem kalten Boden aus, dass ihr Körper mühelos auf den harten Holz Platz finden konnte. Das Blätterdach schloss sich über dem kantigen Schlafgemach und ließ einen schillernden Vorhang aus langen Ranken herunter, dass die letzte Wärme des Tages in sich behalten würde. Ein Lächeln huschte über ihr schmutziges Gesicht, bevor sie an find das nasse Tier von seiner Tracht aus Decken und dem Sattel zu befreien.

„Schon gut, schon gut! Hab keine Angst, heute Nacht wird uns sicherlich keiner angreifen!" Sie streichelte Nachtigall sanft über die Schulter, die sich panisch nach einem Angreifer umschaute. In den vergangenen Nächten überfielen widerwertige Trolle und hungernde Barbaren mehrmals ihr Lager. Melia hatte einige Schürfwunden von ihren monströsen Wurfgeschossen erlitten. Es lag in ihrer Gabe gut zu kämpfen, doch niemand würde unbeschadet davon kommen, wenn sich Faustgroße Steine aus allen Richtungen auf sie senkten, dazu waren mehr als nur eine gute Beweglichkeit notwendig.

Melia drehte sich geschickt von dem nervösen Tier weg und ließ den Sattel auf einen Ast gleiten, der sich aus ihrem Schlafgemach gewühlt hatte. Etwas angewidert blickte sie auf ihre von Schweiß getränkte Hand, als die Schabracke über ihre Finger glitt. Sie wischte sich das kühle Nass rasch von der Haut, bevor sie der in der Dämmerung verschwindenden Nachtigall die Trense über die weißen Nüstern zog. Erfreut wieherte sie.

KönigstochterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt