Ein kleiner Sprung

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  Wir hielten auf einem größeren Parkplatz, der dennoch recht leer wirkte. Vor uns schien ein Naturreservat oder Park zu sein. Noch hatte ich keinen Schimmer, war mir aber sicher, die Wanderschuhe waren die richtige Entscheidung. Kyle stieg aus und griff nach einem dunklen Rucksack, auf der Ladefläche.

  »Ich hab ein paar Sanger eingepackt und Thérèse hat noch etwas ihrer guten Limonade dazu gegeben.«

  »Was hast du eingepackt?« Ich sah ihn fragend an, unsicher, was er mir sagen wollte. Denn ich verstand dieses Wort nicht.

  »Warte kurz«, er tippte sich auf das Kinn, »Sarni?«

  »Ihr sagt Sanger zu Sarni?«

  »Ihr sagt Sarni zu Sandwiches, das ist verrückt. Wir sagen Sanger, weil Sandwich uns zu lang ist.« Kyle schulterte den Rucksack, zog die dunkle Mütze über seine Haare und deutete mir an ihm zu folgen. Klar, wir waren verrückt. Ein kurzes Lachen entkam meinen Lippen. Mal sehen, welche neuen Worte ich heute noch lernen würde.

  »Wir haben eine beachtliche Anzahl von Worte für Sandwich.«

  »Dann einigen wir uns auf Sanger und alle sind zufrieden.« Er zwinkerte mir zu, ehe er andeutete ihm zu folgen. In der Sache schien Kyle nicht mit sich reden zu lassen.

  »Du willst mit mir wandern?«

  »Hast du Höhenangst, Prinzessin?«

  »Niemals, Surferboy.« Vielleicht eine Spur zu selbstsicher. Dabei musste ich weder ihm noch mir etwas beweisen.

  Ich lief hinter ihm und stellte fest, dass er wohle einiges vorab gebucht hatte, denn er zeigte Onlinetickets vor und kurz darauf sah ich den Wasserfall vor mir. Blieb einen Moment stehen, um das Bild vor mir zu erfassen. Es war unbeschreiblich. Noch nie hatte ich einen Wasserfall in Natura gesehen und dieser war sicher nur ein kleinerer, im Vergleich zu den Niagarafällen.

  »Warum ist es hier so leer?«, fragte ich, da keine anderen Touristen zu sehen waren.

  »Es ist keine Saison, steh nicht rum. Komm.« Er griff meine Hand, als wäre es selbstverständlich und zog mich ein Stück mit sich und ich verwarf den Gedanken, dass es immer Touristen gab. Saison hin, Saison her. »Eigentlich musst du das im Winter sehen. Wenn sich Eis gebildet hat. Das ist atemberaubend.«

  Es war so schon kaum zu fassen, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, wie es im Winter aussehen würde. Der Blick, auf den Strom, der Quebec teilte, war nicht zu toppen. Die Dimensionen kaum zu greifen. Ich versuchte, mir auszumalen, wie oft die Themse in den Sankt-Lorenz-Strom passte, aber bei der Vorstellung schaltete mein Kopf direkt ab.

  Schnell erkannte ich, warum er mich fragte, ob ich Höhenangst hatte. Denn über den Montmorency Wasserfall führte eine Brücke, von der man hinunter auf die reißenden Fluten sah. Das Tosen wurde mit jedem Schritt lauter und ich konnte es kaum erwarten, oben zu stehen und den Ausblick auf mich wirken zu lassen. Doch anstatt zur Brücke bog Kyle auf einen anderen Weg ab und deutete mir erneut an, ihm zu folgen.

  »Wie sehr vertraust du mir?«

  »Da du mir diese Frage an einem Wasserfall stellst...«

  Das sanfte Lächeln breitete sich wieder auf seinen Lippen aus. »Komm Prinzessin, es ist Zeit für ein richtiges Abenteuer.« Erneut griff er meine Hand und zog mich mit sich. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man glauben, wir wären seit Jahren befreundet, so wie er mich hinter sich herzog. Er sah kurz zu mir, ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. Er brauchte scheinbar keine Antwort auf die Frage, ob ich ihm vertraute. Er setzte es schlichtweg voraus. An einer kleinen Hütte angekommen, erkannte ich, was sein richtiges Abenteuer bedeuten würde und das die Frage zu meiner Höhenangst nicht daher rührte, über eine Brücke zu spazieren.

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