Kapitel 1b

58 10 2
                                    

[Kapitel werden aufgrund der Länge in a und b aufgeteilt]


»Guten Morgen!«, rief Taris in die Wachstube.

Sogleich erschien das mürrische Gesicht des Soldaten, der seit Mitternacht seinen Dienst verrichtete. Jedem anderen hätte er vermutlich eine unwirsche Aussage entgegengeschleudert. Beim Anblick des Prinzen glätteten sich allerdings seine Züge und er bemühte sich um eine aufrechte Haltung.

»G-Guten Morgen«, stammelte er.

»Ich nehme an mein Vater ließ Wort senden, dass ich die Sonnenstadt heute für einige Tage verlasse?« Der Wachmann brachte nur ein Nicken zustande. »Gut.« Taris schwang sich wieder in den Sattel, hob zum Gruß die Hand und ritt durch die Barriere.

Wie jedes Mal prickelte seine Haut und es war, als würde er mehr als nur die Stadtmauern und das geschäftige Treiben hinter sich lassen. Taris gab seinem Pferd die Sporen und schon bald erreichten sie das nahe Wäldchen, durch das ein breiter Waldweg in Richtung Osten führte. Die Hauptstraße der Bauern und Kaufleute lief Richtung Nordwesten, ins Landesinnere, weshalb man auf dieser hier meist kaum Leuten begegnete.

Der Prinz genoss die Ruhe der Natur und ließ sich erst zur Mittagszeit zu einer längeren Rast am Flussufer nieder. Er teilte den Apfel mit seinem treuen Reittier und streckte sich auf dem weichen Gras aus. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Murmeln des Wassers, schaffte es aber trotzdem nicht so recht, sich zu entspannen. Das lag allerdings nicht daran, dass er sich außerhalb der Palastmauern befand. Mit seiner Magie würde er innerhalb eines Wimpernschlages jeden Angriff abwehren können.

Vielmehr wollte ihm die morgendliche Verabschiedung nicht aus dem Kopf gehen. In den Tagen des Schnees war sein Vater zu ihm gekommen, um ihn über die bevorstehenden Prüfungen zur Thronfolge zu unterrichten. Als sein ältester Sohn fiel es ihm zu, als nächster über das Königreich Sol zu regieren.

Aber warum schon so früh? Mit seinen fünfundzwanzig Jahren hatte sich Taris auf ein paar weitere Jahre voller Reisen, Training und Junggesellendasein eingestellt. Mehr als einmal hatte er seinem Vater die Beweggründe entlocken wollen. Erfolglos. Obwohl der König noch keine fünfzig Jahre zählte, wollte er seinem Sohn den Thron überlassen – so schnell als möglich. Woher kam dieser Druck? Lag es an seinem körperlichen Zustand? Verschwieg ihm sein Vater eine Krankheit? Am Morgen hatte er so zerbrechlich gewirkt, so alt.

Eine Gruppe von Feuerlingen flog laut zwitschernd über den Prinzen hinweg. Im nächsten Moment stand er auf den Beinen, die Hände kampfbereit erhoben. Feuerlinge dienten der Familie Sol nicht nur als Nachrichtenüberbringer, sondern warnten sie oft auch zuverlässig vor Gefahren. Taris kniff die Augen zusammen, spähte in die Schatten des Waldes und drehte sich einmal im Kreis. Als er nichts Verdächtiges erkannte, ließ er die Hände wieder sinken und blickte fragend in Richtung Himmel. Die Feuerlinge waren längst verschwunden. Was aber hatte sie in solche Aufruhr versetzt?

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend sattelte Taris seinen Hengst und machte sich wieder auf den Weg. Sie durchquerten bald das seichte Flussbett und folgten auf der anderen Seite einem Zubringer. Keine Menschenseele begegnete ihnen auf diesem verwachsenen Pfad, der sich immer steiler werdend den Bergfuß hinaufwand. Stellenweise musste Taris absitzen und sein Pferd an den Zügeln durch eng stehende Bäume führen, bevor sie am späten Nachmittag den ersten Wasserfall erreichten.

Der Prinz zügelte seinen Hengst und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Vor ihnen plätscherte Wasser über eine fünf Meter hohe Steinstufe in ein Becken, an dessen Rand abgerundete Kieselsteine im Licht der Nachmittagssonne glitzerten. Taris kniete nieder und füllte seinen Wasserschlauch auf, während der Hengst sich an dem leuchtend grünen Gras labte. Er ließ sich nicht stören, als der Prinz die Satteltaschen leerte. Den Reisemantel verstaute Taris in dem einfachen Rucksack aus Hanf, bevor er seinen treuen Freund am Hals tätschelte. Dann nahm er ihm Sattel und Zaumzeug ab und legte sie unter eine Steinstufe, wo es vor Regen geschützt sein würde.

»Ich bin in wenigen Tagen zurück«, flüsterte er dem Pferd ins Ohr und kraulte es hinter den Ohren. »Du kennst den Weg zum Palast, wenn du nicht so lange warten kannst.« Entgegen seinem Vater oder seinen Geschwistern brachte es Taris nicht übers Herz, sein Pferd an einem Baum festzubinden. Bei Gefahr sollte es die Möglichkeit haben zu fliehen, auch wenn das bedeutete, dass er den ganzen Rückweg zu Fuß zurücklegen würde müssen.

Der Hengst schnaubte und rieb seine Nüstern an der Wange des Prinzen, bevor er sich wieder dem Gras zuwandte. Taris strich ihm ein letztes Mal über den Rücken und erklomm die Steinstufen des ersten Wasserfalls. Zwölf weitere warteten auf ihn, einer gefährlicher als der Andere.

Die großen Wassermassen der Schneeschmelze waren schon abgeflossen, trotzdem führte der Fluss mehr Wasser als in den letzten Sommern. Der feine Wasserfilm machte viele Steine glitschig und erschwertem dem Prinzen den Anstieg. Verschwitzt erreichte Taris ein kleines Plateau, das die Hälfte des Weges markierte. Er hielt den Kopf unter den nächsten Wasserfall und zuckte unter der eisigen Kälte zusammen. Sie bohrte sich wie Nadeln in seine Kopfhaut und hinterließ ein dumpfes Gefühl, als er das Nass mit seinen Händen aus den Haaren wischte.
Taris ließ seinen Blick über die weite Waldlandschaft unter ihm gleiten. In der Ferne blitzten die Türme der Sonnenstadt im späten Nachmittagslicht auf. Er wandte sich um und beäugte die verbleibenden Wasserfallstufen, die ihm geradezu mahnend entgegenblickten. Würde er es rechtzeitig bis zum Sonnenuntergang schaffen?

Ohne eine weitere Pause einzulegen, kletterte Taris weiter, bis er am Fuß des letzten und größten Wasserfalls stand. Feine Wassertropfen besprenkelten ihn, als sich die Abenddämmerung über die Landschaft legte. Er rieb sich die schmerzenden Oberarme und atmete mehrmals tief durch, bevor er sich der Kletterroute zuwandte.

Die Zeit und die glitschigen Steine arbeiteten gegen ihn. Mehr als einmal konnte er gerade noch im letzten Moment sein Gleichgewicht wiederfinden. Zwei Drittel des letzten Anstieges lagen schon hinter ihm und Taris wollte gerade erleichtert aufatmen, als ein aufgeregtes Kreischen an sein Ohr drang. Feuerlinge. Der Prinz suchte die unmittelbare Umgebung ab, konnte sie aber nicht ausmachen. Die Vögel schrien, als sei der Tod höchstpersönlich hinter ihnen her. Die Verbindung, die zwischen der Familie Sol und diesen Tieren bestand, erweckte einen noch nie da gewesenen Beschützerinstinkt in ihm. Er musste sie finden und ihnen beistehen!

Hastig kletterte Taris weiter. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er musste sich mehrmals ermahnen, nicht auf glitschige Steine zu steigen. Plötzlich schwoll das Schreien der Vögel an und er blickte nach oben. Ein Schwarm von mindestens zehn Tieren raste den Wasserfall hinab, direkt auf ihn zu.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte ihnen der Prinz entgegen. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: hinunterspringen oder getroffen werden. Taris entschied sich für eine dritte, unwahrscheinliche Lösung und sandte den Vögeln in Gedanken eine Botschaft: »Dreht ab!«

Die Tiere zeigten keine Reaktion und er machte sich schon auf einen Aufprall gefasst, klammerte sich mit den Fingern an den Felsen und drückte seine Füße fester gegen die Tritte. Doch im letzten Moment drehten die Feuerlinge ab und flogen haarscharf an ihm vorbei. Einer streifte ihn mit dem Flügel im Gesicht und Taris drehte sich um, um ihnen nachzusehen. Laut kreischend flogen sie in Richtung Sonnenstadt davon, hinein in den beginnenden, orangeroten Sonnenuntergang. Was in Nabúrs Namen hatte die Tiere so erschreckt?

Froh, noch neben dem Wasserfall in der Wand zu stehen, atmete Taris auf. Er lockerte seine Hand und griff nach dem nächsten Vorsprung, als er von etwas Hartem getroffen wurde.

Wie in Zeitlupe glitten seine Finger und Füße von den Tritten und er stürzte rücklings in die Tiefe. Über ihm erkannte er einen Feuerling, der sich schüttelte und laut kreischend den anderen Vögeln folgte. Hätte Taris Flügel gehabt, hätte er dasselbe getan. Die hatte er aber nicht, also tat er das Einzige, das ihm einfiel: Er ließ seiner Feuermagie freien Lauf und schickte einen riesigen Feuerball Richtung Wasserbecken am Fuß des Wasserfalls. Dampf erschwerte ihm das Atmen, bevor sein Körper in die Flammen fiel und der Aufprall ihm die Luft aus den Lungen presste.

Taris - Die Magie der ArtefakteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt