[Kapitel werden aufgrund der Länge in a und b aufgeteilt]
Am Morgen wusste Taris nicht mehr, wie er zurück zu seinem Lager gekommen oder ob seine Gefährten dort gewesen waren. Die hämmernden Kopfschmerzen hielten selbst während des Reitens an und ließen erst nach, als er während der Mittagspause einen Tee der Kräuterkundigen aus dem ersten Dorf trank.
»Während ihr euch gestern mit Tanzen vergnügt habt, war ich auch nicht ganz untätig! Die Kinder haben mir gezeigt, wie man mit einer Steinschleuder umgeht!«, verkündete Fynnlor stolz und hielt sein Abschiedsgeschenk in die Höhe.
»Du bist gar nicht mal so schlecht«, steuerte Raki bei. »Mit ein bisschen Übung triffst du bestimmt auch weiter entfernte Ziele – und das tut denen dann wirklich weh.« Sie grinsten sich spitzbübisch an, während Taris seine Schläfen massierte.
»Gestern zu viel gefeiert?« Hedlor sah ihn mit nach oben gezogenen Augenbrauen an.
Das rollende Lachen von Marel ersparte ihm die Antwort. »Das wage ich zu bezweifeln! Er hat schon seelenruhig vor sich hingeschlummert, als ich zurückgekommen bin. Viel interessanter ist doch, wo du so lange warst, dass du deine Nachtschicht fast vollkommen verpasst hast?«
»Bei der Herrin des Hauses, bei wem denn sonst?« Alle Augen richteten sich auf Raki. Der zeigte aber keine Spur von Reue oder Scham und ließ sich auch von Hedlors säuerlichem Gesichtsausdruck nicht beirren. »Du hast ihr bei der Hausarbeit geholfen und ihr einen Sack Kartoffeln in die Küche geschleppt. Warum hättest du wo anders sein sollen?«
Der Nordmann schnaubte, sagte aber nichts dazu. Asideya beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, behielt ihre Meinung aber auch für sich.
»Wollen wir noch ein wenig üben, bevor wir wieder aufbrechen?«, fragte Raki Fynnlor. Der nickte, dass ihm die roten Locken ins Gesicht fielen und gemeinsam entfernten sie sich ein paar Meter von den anderen. Der Junge begann sofort damit, ihn auf die Fehler seiner Haltung der Steinschleuder hinzuweisen.
Marel veränderte seine Sitzposition und sah Taris von der Seite an. »Warum bist du heute so in dich gekehrt? Solltest du nicht vor Freude strotzen und es kaum erwarten können, dass sich der Tag zu Ende neigt?«
»Den vollen Mond kann ich tatsächlich kaum erwarten. Im Moment sind es eher die wirren Träume der vergangenen Nacht, die mich von einem Freudestrahlen abhalten.«
»Lass dich davon nicht verrückt machen«, sagte Hedlor und stand auf. »Träume sind nicht für unsere Zukunft verantwortlich. Was wir wie machen und entscheiden haben wir selbst in der Hand, auch wenn uns die nächtlichen Begegnungen manchmal anderes erzählen wollen.« Er sammelte die Trinkschläuche ein und ging zum nahen Bach, um sie aufzufüllen.
Taris starrte ihm hinterher. Seine Träume hatten nicht von der Zukunft gehandelt, sondern von der Vergangenheit. Er hatte sich selbst aufwachsen gesehen, erneut miterlebt, wie er den Umgang mit seiner Magie gelernt und zwei der magischen Jugendturniere als eindeutiger Sieger verlassen hatte. Die Sticheleien seiner Brüder, das erste Verliebtsein, die unzähligen Übungsstunden mit dem Schwert bis hin zu dem Abend, als sein Vater ihn aufgesucht hatte, um ihn auf einen baldigen Thronwechsel vorzubereiten. Neben dem letzten Gespräch mit seiner Mutter hatten sich aber auch die Erinnerungen an Fugro, seinen Feuerling eingebrannt. Wie es ihm erging? Awa hatte ihn vor traumreichen Nächten gewarnt. Wenn er diese Nacht ausschließlich von der Vergangenheit geträumt hatte, was würde in der folgenden auf ihn warten, wenn seine Magie wieder frei durch seinen Körper floss?
Feine Glutfunken stiegen vom knisternden Feuer in Richtung Himmel, auf dem ein voller Mond stand.
Endlich Vollmond, dachte Taris und blickte der runden Himmelsscheibe sehnsüchtig entgegen. Endlich werde ich diese Eiseskälte in mir los! Nur noch eineinhalb Tagesritte trennten sie vom Nebelmeer, ihrer nächsten großen Hürde. Wir werden dem Feysir das Handwerk legen, die Magier befreien und in unsere Königreiche zurückkehren. Trotzdem würde nichts mehr so sein, wie es war. Spätestens nach dem Gespräch mit Awa hatte er sich seine Gefühle zu Loira eingestanden. Aber was wäre, wenn sie anders empfand. Oder wenn ich mich opfern muss, um ihn aufzuhalten. Wer würde dann den Thron seines Königreiches besteigen? Wäre noch genügend Zeit, dass eines seiner Geschwister die Prüfungen zur vorzeitigen Thronübergabe ablegte? Oder lag sein Vater gar schon im Sterben, ohne dass er davon wusste?
»Wenn ich mir dein Gesicht so ansehe, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob du gestern die Wahrheit gesagt hast.« Taris löste seinen Blick vom hellen Mond und blickte in die erwartungsvollen Augen seiner Gefährten. »Du siehst eher so aus, als würdest du dich davor fürchten, dass deine Magie nicht zurückkommt«, fuhr Hedlor fort. »Außerdem schuldest du mir noch eine Antwort.«
Taris atmete tief durch. Keiner von ihnen wusste von seinem Besuch bei Awa und was dort geschehen war. Sollte er ihnen von der Möglichkeit der Zerstörung der Artefakte erzählen? Würden sie versuchen, ihn daran zu hindern und selbst das Opfer bringen wollen? Er wischte die Fragen in seinem Inneren beiseite. »Welche?«
»Was hat diese Reise mit dem Thron von Sol zu tun, wenn du wie die anderen Söhne und Töchter der Königshäuser geschickt wurdest, dem Feysir die Stirn zu bieten?«
Taris zog die Füße in einem Schneidersitz zu sich heran und verschränkte die Finger in seinem Schoß. »Was ich euch jetzt erzähle, muss unter uns bleiben. Selbst nachdem wir den Feysir bezwungen und nach Hause zurückgekehrt sind, darf diese Information nicht weitergegeben werden. Nur wenn ich euer Wort darauf habe, kann ich Hedlors Frage wahrheitsgemäß beantworten.« Er blickte in die Runde und sah von jedem ein ernstes Nicken.
Jetzt war es also so weit. Stunde der Wahrheit Nummer eins. »Wie ihr vermutlich alle wisst, gibt es Regeln zur Thronfolge von Nabúrs Königreichen. Zumeist erfolgt ein Thronwechsel nach dem Tod des amtierenden Königspaares oder eines Teils davon. Es gibt aber auch einen vorzeitigen Thronwechsel, der ab der Volljährigkeit von potentiellen Nachfolgern – den leiblichen Kindern – vollzogen werden kann. Dies geschieht äußerst selten und kann auch nur dann vonstattengehen, wenn diese festgesetzte Prüfungen passieren. So, wie es in meinem Fall wäre.« Taris' Augen wanderten die ganze Zeit über von einem seiner Gefährten zum nächsten. Bei seinen letzten Worten wirkte nur Raki nachdenklich, während die Erwachsenen die Augen erschrocken aufrissen.
»Wir reisen also nicht nur mit irgendeinem der Feuerprinzen, sondern mit dem baldigen König von Sol?« Marel konnte seine Bewunderung nicht verbergen. »Wer weiß sonst noch davon?«
»Außer euch nur Loira und zum Zeitpunkt meiner Abreise meine Mutter und die Prüfer. Nicht zu vergessen meinen Vater, der die Prüfungen in die Wege geleitet hat.«
»Aber ... ist er krank? Will er einfach nicht mehr?« Fynnlor stand seine Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben.
Taris seufzte. »So genau wollte er mir das auch nicht sagen. Kurz vor meinem Aufbruch aus der Sonnenstadt gab es erste Anzeichen für eine Krankheit, die an den Kräften seines Körpers zehrt.«
»Du meintest Ausbruch, oder?« Marel saß wie so oft zu seiner Linken und lächelte ihm zu. »Wie das für mich klingt, würde er dich lieber auf dem Thron sitzen sehen als durch Nabúr reisen, um einem verrückt gewordenen Magier nachzujagen. Dass du gegen seinen Willen gegangen bist könnte ihn dazu bringen, seine Entscheidung zur Thronfolge nochmals zu überdenken.«
Taris nickte. »Da hast du leider recht, ja.«
Hedlor verengte die Augen zu Schlitzen. Ihm missfiel wohl der Gedanke, dass der König der Könige den besten Kämpfer zu Hause hatte einsperren wollen. Damit war er allerdings nicht alleine, ansonsten säße Taris nicht mit ihnen am Feuer.
»Verrückt oder nicht, wir müssen ihn aufhalten, bevor die Schatten seiner dunklen Macht ganz Nabúr im Griff haben.« Egal, was es kostet.
»Du redest jetzt schon wie ein König«, meldete sich Raki zu Wort und stocherte mit einem Stock im Feuer herum. Ein Schwarm aus Glutfunken stahl sich gen Himmel, wo sie der Wind vertrieb, ehe sie in der Nachtluft verloschen.
Eine Weile hingen alle ihren eigenen Gedanken nach, bis sich Asideya räusperte. Sofort lagen alle Augen auf ihr, sprach sie doch sonst kaum ein Wort. »Wo nun schon zwei von uns«, sie bedachte Taris und Hedlor mit einem kurzen Blick, »etwas über sich und ihre Vergangenheit preis gegeben haben, möchte ich auch nicht länger schweigen. Dass ich den Königssohn von Terian beschützen soll ist nicht der einzige Grund, weshalb ich mich euch angeschlossen habe.«
Mit ihren Worten bestätigte die Südländerin den Verdacht des Feuerprinzen – jeder von ihnen hatte sein eigenes Geheimnis, weshalb sie die Strapazen der Reise auf sich nahmen. Jeder einen eigenen Antrieb, der stark und wichtig genug schien, dem möglichen Tod ins Auge zu blicken. Außer Raki vielleicht.
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Taris - Die Magie der Artefakte
FantasyWofür würdest du dich entscheiden, wenn das Schicksal des Kontinents mit in deinen Händen läge? Für eine Geheimmission voller Gefahren, um die Pläne des Feindes zu vereiteln? Oder für den Thron des mächtigsten Königreiches? Vor dieser Wahl steht der...