Kapitel 6

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Cleo

Die Kutsche hielt vor einem kleinen Anwesen, welches in verschiedenen Rosatönen gestrichen war. Hübsch blühendes Unkraut und Efeu überwucherten den Vorgarten. Efeu kletterte auch einen Teil der Hauswand hoch. Algen wuchsen auf dem alten, reparaturbedürftigen Dach.

„Hier wohn deine Oma?", fragte Cleo und sah voller grauenerfüllter Ehrfurcht das Haus an. „Wann wurde hier das letzte Mal renoviert?"

„Vor ein paar Wochen? Oma schrieb, sie hätte das Dach kürzlich geflickt."

„Sie?"

„Ja." Charlotte seufzte. „Meine Großmutter, Antonia, meint, sie könnte das allein. Die Gute ist dreihundert Jahre alt und stur! Mein Großvater... Nun, er ist zu zerstreut, um sich um Reparaturen zu kümmern. Clemens. Er ist ihr vierter Ehemann. Sterblich, wie alle vor ihm. Er müsste inzwischen neunzig sein. Vor zehn Jahren haben die beiden ihr erstes gemeinsames Kind bekommen. Davon hatte ich dir ja erzählt... Ernestine ist ein liebes Kind, allerdings genauso zerstreut wie ihre Eltern."

„Ich erinnere mich." Cleo war erleichtert, dass Charlotte die Namen ihrer Großeltern noch einmal wiederholt hatte. Diese hatte Cleo nämlich vergessen, was Charlotte vermutlich ahnte.

Die beiden stiegen aus der Kutsche aus und bahnten sich einen Weg durch den Vorgarten. Zum Glück hatte das Unkraut noch nicht die Gehwege erobert. An der Tür wurden die beiden von einem groß gewachsenen Mädchen begrüßt, dass sich an den Dienern vorbeidrängelte. Diese schmunzelten und verbeugten sich vor Cleo und Charlotte.

„Charlotte!" Das Mädchen umarmte Cleos Frau stürmisch. „Mama hat erzählt, dass du heute kommst!"

Ernestine hatte ein rundes Gesicht. Dazu braune, große Rehaugen, genau wie ihre wirren Haare, die wohl mal geflochten waren. Ihr Blick wanderte zu Cleo. Das Mädchen sah sie mit großen, hübschen Augen an. „Wer bist denn du? Mama sagte, Charlotte bringt eine Frau mit."

Bevor Cleo antworten konnte, erschien eine Hexe mit langen, blonden Haaren im Eingang. Eine kleine, runde Brille saß etwas schief auf ihrer runden Nase. „Nein. Ich sagte ‚ihre Frau' Ernestine!" Charlottes Großmutter verbeugte sich tief. „Willkommen Eure Hoheit!" Dann umarmte sie Charlotte. „Willkommen meine Kleine! Kommt beide rein. Ich habe Tee und Kuchen." Antonias Blick wanderte über Charlottes Kleid und sie nickte anerkennend. Cleo musste sich das Lachen verkneifen. Charlotte hatte nicht übertrieben. Antonia legte Wert darauf, was ihre Enkelin trug.

Ernestine griff nach Charlottes Hand und zog sie davon. „Komm! Mama hat selbst gebacken! Und ich habe geholfen!"

Charlotte sah entschuldigend zu Cleo, dann war sie auch schon aus ihrem Blickfeld verschwunden. Cleo war allein mit der älteren Hexe.

„Ihre Einladung freut mich sehr", sagte sie und betrat die Villa. Innen war alles kunterbunt. Nichts passte zusammen.

„Oh! Nein!" Antonia griff nach ihren Händen und drückte diese liebevoll. „Mich freut es! Ich war entzückt, als ich von der Hochzeit hörte! Charlotte hat früher fast nur von Euch gesprochen."

„Hat sie das?"

„Allerdings." Nun betrachtete Antonia sie genauer. Genau wie Charlotte zuvor. „Ihr seht bezaubernd aus! Von Charlotte bin ich einiges gewohnt... Einmal hatte sie bei einer Familienfeier ein fürchterliches Kleid an. Das könnt Ihr mir glauben! Giftgrün. Eine grässliche Farbe. Kommt. Wir gehen zum Kuchen, bevor Charlotte und Ernestine ohne uns anfangen. Es gibt Himbeertorte. Leider ohne Himbeeren... Die Früchte waren am Schimmeln. Schade. Wir haben den Teig daher mit Rote Beete Saft gefärbt... Ach. Nur eine Bitte. Bitte lasst meinen Mann Clemens einfach in seinem Sessel sitzen. Er hört seit neun Jahren nichts mehr und seit einem Jahr kann er auch nicht mehr sehen. Er ist blind und würde sich nur erschrecken. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch bei mir habe."

Hexe - Die KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt