35. Rabenzeit

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Da mich Mrs.Raven bei meiner Ankunft direkt durch das Schulgebäude geführt hatte, wusste sich nicht, wo sich ihr Büro versteckte. Sie hatte wohl nicht erwartet, mich so früh zu sich zitieren zu müssen. Dabei wusste ich selber nicht, was mir die Ehre verschafft hatte, aber es war mir recht, solange ich Unterricht verpassen konnte. Ich lief ohne viel Hast durch die langen Gänge von Stonegrave High und inspizierte alles so gründlich, als könnte Mrs. Raven hinter jeder Ecke hervorspringen. Oder als würde ich nach einer Geheimtür suchen. So etwas würde es an der Stonegrave High bestimmt geben und sie würde mich sicher in einen Raum führen, der noch unterirdischer und von Staub und Spinnen besiedelter war, als der hexische Schlaftrakt.

Ich streifte durch das Gebäude, in Gedanken versunken, da landete ich einem Flur, der zu einer Seite hohe, gotische Fensterbogen mit einen Ausblick auf den Sportplatz hatte. Draußen spielten Schüler, die ich nicht kannte und ich stützte meine Arme auf dem Fenster ab und sah ihnen zu. Es erinnerte mich daran, dass ich früher die Schüler ebenfalls beobachten konnte, nur von der anderen Seite, von dem Balkon in unserem Haus aus. Nach wie vor konnte ich ihre Bewegungen nicht durchschauen, doch da ich sie jetzt mit mehr Vorstellungskraft betrachtete, konnte ich fast die Wärme der Sonne und trockenen Sand spüren und in die ungelenken Bewegungen der Spieler Luftsprünge interpretieren. Ein Kratzen riss mich aus meinen Tagträumen. Neben mir, auf der Außenseite des Fensters, hatte sich ein großer schwarzer Rabe niedergelassen, der mich durch das Glas mit schief gelegtem Kopf anstarrte. Seine Klaue grub sich in den Fenstervorsprung und sein Schnabel schabte erneut gegen die Fensterscheibe. Er krächzte tief und schob seinen Schnabel in eine Richtung. Ich drehte mich um und bemerkte die Tür am Ende des Flures, auf der das Pentagramm mit den flammenden Flügeln der Schule eingebrannt war. „Da soll ich hingehen?", fragte ich den Raben. Bestätigend plusterte er sich auf und krächzte erneut, bevor er sich mit seinem Klauen von dem Steinvorsprung abstieß und in die eben gezeigte Richtung davon segelte. Ich folgte ihm, mehr oder weniger, auf meiner anderen Seite, bis ich vor der Tür stand. Ich entschied mich dagegen zu klopfen und betrat das Zimmer. Mrs. Raven blickte leicht ungehalten von ihrem Schreibtisch auf und bedeutete mir, auf einem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen. Durch das offene Fenster flatterte der Rabe herein und setzte sich auf ihre Schulter. Mrs. Raven schob sich die Lesebrille, die ich sie zum ersten Mal tragen sah, hoch auf ihr kurzes graues Haar und fuhr über die Flügel ihres gefederten Freundes, der nach ihrem Brillengestell pickte, um es zurechtzurücken. „Gut gemacht, Fitheach."

Sie widmete sich mir mit einer belustigt erhobenen Augenbraue. „Das hat gedauert. Wie lange hast du dich in den Fluren herumgetrieben?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Sie haben mir nie gesagt, hinter welcher Tür sich Ihr Büro befindet. Die Karte habe ich vergessen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass es darauf verzeichnet war."

„Das liegt daran, dass mein Büro überall und nirgendwo zugleich ist. Die Stonegrave High ist eine magische Schule, und wie du vielleicht bemerkt hast, ergibt nicht alles an ihr Sinn. Ein unterirdischer Gewächsgarten, Kaminfeuer, die nicht ausgehen, Gänge die länger erscheinen als das Gebäude breit ist, Decken wie höher reichen, als es das Stockwerk zulassen würde... nicht umsonst gibt es die Gerüchte, dass wir unsere Schule auf den Grundmauern des sagenumwobenen Schlosses Camelot errichteten. Zumindest ein passendes Artefakt zu dem heiligen Gral aus der Legende wurde in Stonegrave gefunden, bei dem es sich jedoch auch um einen römischen Trunk-Becher handeln könnte. Aber das ist genug Geschichtsunterricht. Um es zusammenzufassen, ist die Stonegrave High ein Ort der alten Magie, die teilweise von mir, der Schuldirektorin, gesteuert werden kann." Mrs. Raven deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich. „Das bedeutet, dass bei einem Schüler, der sich in Schwierigkeiten befindet, mein Büro ihn oder sie aufsuchen wird, egal wo sie versuchen hinzugehen."

„Es macht gar keinen Unterschied, wohin ich unterwegs bin?", wiederhole ich verblüfft.

Mrs.Raven nickt mit schief gelegtem Kopf und erinnert mich dabei von ihrer Gestik an den Raben auf ihrer Schulter. „Es macht gar keinen Unterschied." Sie lächelte verschmitzt. „Solange du dich entscheidest, irgendeine Tür zu öffnen anstelle die Zeit zu vertrödeln."

Stonegrave, Schule der Engel und HexenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt