22. Sesam, öffne dich

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Mit angeekelt hochgezogener Nase wühlte ich in der Lücke zwischen den Deckenpaletten in meinem Badezimmer. Der Dämon hatte mir beschrieben, wie ich mich auf den Toilettendeckel stellen und oben die lockere Holzleiste beiseiteschieben konnte. Dahinter befand sich ein kleiner Hohlraum, den ich mit den Fingern abtastete. Er war kühl und feucht, weshalb ich fest mit jeder Menge Schimmel rechnete, die ich da berührte. Es wunderte mich, dass diese Nässe sich nicht schon längst in der Oberfläche der Decke abgesetzt hatte.

Ich ertastete einen Stoffsack, den ich hervorholte. Ein muffeliger Gestank ging von dem womöglich schon seit geraumer Zeit durchweichten Stoff aus, der dazu führte, dass meine Augen tränten.

„Was zur Hölle hat Großmutter Rosaline versteckt gehalten? Eine tote Ratte?"

Mach es auf, bat die Stimme mich.

Ich hielt mir den Ärmel vor den Mund, um den Geruch zu vertreiben.

„Ich will nicht."

Komm schon, kleine Newsland. Es wird nicht beißen, dafür gebe ich mein Wort.

Wie viel die Worte eines Dämons wert waren konnte ich hoffentlich mit mehr als einer Hand abzählen. Mit angehaltenem Atem schlug ich das Stofftuch beiseite.

„D- das - ", stammelte ich verblüfft. „Das ist..."

Es ist Lehm, führte der Dämon meine Gedanken zu Ende.

„Warum würde meine Oma so etwas im Bad aufbewahren?", fragte ich mit Blick auf den faustgroßen, runden Brocken, der den Stoff des Tuches braun färbte.

Es handelt sich um eine Spezialanfertigung aus einer Lehmgrube im schottischen Rannoch Moor, die extra der Erschaffung von Lehmgolem dient. Rosaline hat wahrscheinlich die Badewanne dazu benutzt, solch einen zu kreieren. Damit die Angelegenheit nicht zu schmutzig wird.

„Ein Golem?"

Er seufzte missmutig, als würde ich auch gar nichts kapieren.

Eine Hülle die einem Menschen ähnelt, geschaffen aus Lehm oder Stein. Sie muss die Dienste des Meisters erfüllen, welcher sie errichtet hat. Nachdem ein Golem seinen Auftrag erfüllt hat, zerfällt er in seine Einzelteile.

Mit klopfendem Herzen starrte ich den Klumpen in meiner Hand an. Golems konnte ich auf meine Liste der Absonderlichkeiten setzen, gleich neben die Nachtmahre. Aber warum hatte Oma Rosaline diese Kreatur ins Leben erweckt? Welchen Auftrag sollte sie für sie erfüllen?

„Und du erwartest, dass ich einen Golem baue?", schob ich das Thema zurück aufs Hier und Jetzt. „Es sieht nicht so aus, als würde das Material genügen."

Es sind bloß Überreste. Aber der Lehm ist magisch, weshalb er sich für viele andere Rituale eignet. Für unser Vorhaben brauchst du nur noch die Gegenstände, die neben dir liegen.

Mein Fokus wanderte zu dem Fensterbrett zu meiner Seite. Dort befand sich nichts Ungewöhnliches: meine Haarbürste, eine Körperlotion, und...

Meinte der Dämon womöglich das gläserne Glas, welches randvoll gefüllt war mit Bruchstücken dunkelgrauer Kieselsteine?

Das sind nicht irgendwelche Steine, korrigierte er mich, meine Gedanken schon wieder durchschauend. Diese 'Kieselsteine' sind Überreste von riesigen Monolithen, also Steinkreisen, die in ganz Schottland stehen.

Ich griff nach dem verstaubten Glas.

„Ich dachte, sie wären nur Dekoration."

Der Dämon kicherte belustigt. Alles Dekorative in diesem Haus hat gleichzeitig einen magischen Nutzen. Deine Großmutter war eine praktisch veranlagte Frau.

Stonegrave, Schule der Engel und HexenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt