Es stellte sich heraus, dass Hexen neben dem von mir vermuteten Kurrikulum sehr viel über die Kulturhistorie der gesamten Welt lernen mussten. Auf dem Stundenplan stand neben Orientalistik zusätzlich Anglistik, Romanistik, Afrikanistik, Skandinavistik, Slawistik und noch vielen mehr -stiks.
Eigentlich sah der Lernplan nicht aus, als würde er von einer Schule für Teenager stammen, sondern von einer Universität für Studierende gedacht sein, welche sich ein Leben lang mit allen Sprach- und Kulturwissenschaften befassten. In dem Unterrichtssaal, in den Valruv und Medea mich führten, war nur ein Tisch in der ersten Reihe frei, auf den ich mich widerwillig fallen ließ. Meine Jacke hatte ich in meiner Zeit hier anbehalten, zum einen, weil es trotz der vielen brennenden Kamine einen kalten Luftzug in dem Gemäuer gab, den ich mir vielleicht auch durch mein negatives Empfinden bezüglich der Stonegrave High einbildete. Ich schauderte wieder, als ich in die Glut des Kamins sah und mich daran erinnerte, dass ich außerhalb des Gebäudes keinen einzigen Schornstein erblickt hatte. Nie war der Rauch der Glut, die vor mir brannte, in die Richtung unseres kleinen Häuschens gezogen, nie hatte ich ihn gräulich kringelnd in den Himmel aufsteigen sehen. Zusätzlich dazu wurde ich von den anderen Schülern sowieso komisch genug betrachtet, da wollte ich ihnen mit meiner unter dem Ärmel verborgenen Dämonenkralle nicht dauernd eine Show bieten. Es waren mindestens zwanzig weitere Schüler, die hinter mir auf den Bänken saßen und tuschelten. Ich versuchte einen unauffälligen Blick zurückzuwerfen, ob ich neben Valruv und Medea noch weitere Gesichter erkannte. Einige kamen mir von den Sportspielen auf ihren Hof bekannt vor, die meisten hatte ich jedoch noch nie gesehen. Eine Junge mit kurz geschorenen Haaren und einem rundlichen Gesicht in der Reihe neben mir lächelte schüchtern. Medea, die mit Valruv zusammen hinter mir sah, beugte sich über den Tisch an mein Ohr heran. „Billy verwandelt sich gerne in ein Insekt und schaut heimlich in andere Zimmer, was die Mädchen verschreckt." Billy wurde rot im Gesicht und ich wandte schnell meinen Kopf von ihm ab, um ihn nicht weiter zu beschämen. Stattdessen hockte ein Mädchen mit tiefschwarz untermalten Augen in meinem Sichtfeld. „Veronica ist ein Vampir, sie trinkt nicht vor Vier", summte Medea weiter und ich drehte mich zu ihr herum. „Kannst du das nicht lassen?" Medeas Augen verzogen sich zu Schlitzen und sie sah auf einmal gar nicht mehr amüsiert aus. Ihr freundschaftlicher Umgang war nur auf einem oberflächlichen Level mit gegenüber existent, sie war jemand, dessen Stimmung schnell kippen konnte. „Natürlich nicht, weil du reimst", versuchte ich stammelnd die Situation zu retten. „Du solltest nicht schlecht über andere hinter ihren Rücken reden, darum geht es mir."
Sie lehnte sich schmollend zurück. „Was ich sage, ist keine Bürde, nichts was ich ihnen nicht selbst sagen würde."
Unser Gespräch wurde unterbrochen, als der Lehrer den Raum betrat. Es handelte sich bei ihm um einen riesigen Mann, der den Kopf unter dem Türrahmen einziehen musste und beim Aufrichten fast an die Decke reichte. Dabei konnte es sich nur um eine optische Illusion halten, da die Decke höher als zwei Meter war. Seine schlanke Gestalt lag unter einem schwarzen Mantel verborgen, lediglich beim Gehen erhaschte man einen Blick auf den schwarzen Rock und die spitz zulaufenden Schuhe, die er darunter trug. Die Kieferpartie und sein Mund waren von einer Maske aus schwarz angemaltem Metall bedeckt und ich bildete mir ein, dass er darunter röchelnd atmete. Auf seiner rechten Schulter hockte ein schwarzer Papagei, dessen Federkamm auf dem Kopf anlag und seine winzigen dunklen Augen uns alle schief im Blick behielten.
„Hinsetzen", scharrte plötzlich eine dunkle Stimme aus dem schwarzen Papagei und einige Schüler, die noch beisammengestanden hatten, nahmen schnell Platz. Der Lehrer schob seine knochigen Hände aus dem Umhang, um damit etwas in die Luft zu zeichnen. Zeitgleich schrieben sich Worte hinter ihm von selbst an die Tafel und der Papagei sprach erneut. „Heute haben wir eine neue Schülerin bekommen, derer ich mich vorstellen möchte. Willkommen, Callie Newsland. Ich bin Mr.Heksdood, der Klassenleiter deiner Stufe. Ich unterrichte die Fachrichtung Sprache und Kultur, meine Hauptfächer sind Keltologie, Orientalistik, Skandinavistik und das Zusatzfach Gebärdensprache. Nebenbei betreibe ich die Freizeitaktivität Zumba. Nur damit du weißt, welche Schwerpunkte du im Folgejahr besser nicht auswählen solltest." Lachen erklang in der Klasse. Mr.Heksdoods Name stand mit zierlicher Schrift hinter ihm an der Tafel geschrieben. „Nimm ihm beim Wort und wähle niemals seine Wahlfächer. Mr.Heksdood ist ein schonungsloser Lehrer", flüsterte Valruv mir finster zu. Ich sah, dass mich jetzt mehr neugierige Blicke trafen. „Newsland?", hörte ich jemanden wispern.
„Vielen Dank", erhob ich meine Stimme. „Aber – ich werde nicht lange bleiben", hängte ich leiser an. Mr.Heksdood musterte mich, ich konnte absolut gar nichts seinen braunen Augen entnehmen, vor allem da man durch die Maske seine untere Gesichtspartie nicht sehen konnte. Er setzte wieder zum Gestikulieren an. „Das wird sich zeigen."
Mr.Heksdood begann mit seinem Unterricht. „Valruv Oboroten. Möchtest du die nächste Frage deines schonungslosen Lehrers beantworten, um unsere neue Schülerin in den Sinn des Lernstoffes einzuweisen?" Valruv zuckte zusammen und kratzte sich panisch an seiner Akne. Medea wiegte sich erheitert neben ihm und begann zu summen. „Was für ein Fehltritt, Mr.Heksdood hörte mit!"
Mr.Heksdoods Hände schnellten mitleidlos durch die Luft. „Erkläre bitte, welchen Sinn es für uns Hexen hat, einen Einblick in jede Sprache und Kultur zu erhalten."
Anscheinend konnte Valruv nicht gut mit Aufmerksamkeit umgehen, da er sich heftiger kratzte und er mir sehr leidtat. Seine Stimme fiepste beim Sprechen, der Stimmbruch machte sich bemerkbar. „Beim Hexen geht es um die Kultur, Historie, Legenden, Mythen aus aller Welt, und besonders um die Sprachen, in welchen Magie steckt. Deswegen lernen wir so viele unterschiedliche Gebräuche, und wie wir sie nutzen können."
„Jede Hexe oder Hexer lernt aus den Sprüchen vergangener Zeit, die an Bedeutung gewonnen haben.", fuhr Mr.Heksdood fort und ließ von dem mitgenommenen Valruv ab. „Alle Lebewesen auf der Welt, die man für reine Fantasie hält, existieren in bestimmter Form und müssen reguliert werden. Dafür werdet ihr ausgebildet, um in gemeinsamer Partnerschaft mit den Engeln die Menschheit vor bösartigen mythischen Kreaturen zu beschützen, die unbewusst in ihren Schatten existieren."
Jemand schnaubte an der Tür. Die Klasse drehte sich zu dem Spätankömmling um, dessen Betreten ich gar nicht gehört hatte. Den kannte ich, es war der Junge, der auf dem Sporthof den Ball gehalten hatte. Seine langen Haare fielen ihm nach vorne, als wäre er das Mädchen aus The Ring.
„Partnerschaft? Dass ich nicht lache", spöttelte er. Und schon hatte Mr.Heksdood sein neues Opfer gefunden. „Schön, dass du uns so verspätet mit deiner Anwesenheit beehrst, Merlin."
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Stonegrave, Schule der Engel und Hexen
FantasíaAls Callie Newsland mit ihrer Mutter zurück in die schottische Kleinstadt Stonegrave zieht, stellt sich ihr Leben komplett auf den Kopf. Sie möchte nur schnellstmöglich Freunde finden und sich trotz des schmerzhaften Verlustes ihrer ehemaligen Heima...