48. Herzschmerz und singende Flammen

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**In diesem Kapitel wird Hexenverbrennung thematisiert.**

1662, Dùn Draoidh

 „Deine Mutter hat einst eine ähnliche Erfahrung mit einer Hexe gemacht", erzählte Jophiel seinen Sohn, als er ihn besuchte. Dieser lag auf dem Boden, die Flügel wie ein schützendes Dach über sich ausgebreitet. Die Federn waren stumpf und glanzlos. Eine der goldenen Federn, inzwischen zu einem Messington verrostet, löste sich aus den Handschwingen. Daniel Bolt hatte sich nicht bewegt, seit Jophiel Bolt eingetroffen war, aber bei der Mitteilung zuckte sein Kopf leicht nach oben.

„Du warst sehr klein, ich weiß nicht, ob du dich an sie erinnerst. Deine Mutter hat sie manchmal 'Tante Midge' genannt, als wäre sie deine Patentante. Sie waren Kindheitsfreundinnen und nahestehend. Midge war kein Engel, das wusste ich schon. Ich hatte meine Zweifel bezüglich ihrer Beziehung zueinander. Normalerweise verkehren Engel nicht so intensiv mit Menschen. Ich habe mich allerdings rausgehalten. Das war, bis ich herausgefunden habe, dass es sich bei der lieben Midge von nebenan um eine Hexe handelte."

Jophiel Bolt strich sich über seine Offiziersuniform, um die Hände davon abzuhalten, vor Wut unkontrolliert zu zittern. „All die Jahre hat diese Hexe Adelaine die süßen Worte des Teufels zuflüstern können. Sie hat ihr seltsame Tinkturen zubereitet, unter anderem eine Rezeptur, angeblich damit sie nachts besser schlafen kann. Sie hat ihr Kleidung gestickt und hätte jederzeit mit einer Vodoonadel zustechen können. Wer weiß, welchen Schaden sie Adelaine angerichtet hat. Das war die erste Hexe, die ich verbrannt habe. Um meine Ehefrau und um dich zu beschützen."

Daniel blickte langsam auf. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen wie ausgehöhlt in ihrer Tiefe. „Ich erinnere mich an Tante Midge. Mutter sagte, dass sie verschwunden sei."

Jophiel Bolt huschte ein vergrämtes Lächeln übers Gesicht. „Ich habe es nie über mich gebracht, ihr von Midges wahren Charakter zu erzählen. Es hätte ihr Herz gebrochen."

Zu wissen, dass ihr Ehemann ihre beste Freundin getötet hatte?

„Es würde sie zerstören", bejahte Daniel.

Er rührte sich nicht vom Boden. Seine Augen waren wieder auf den grauen Stein unter seinen Fingern gerichtet. Jophiel Bolt hatte beobachtet, wie sich sein Zustand in den letzten Tagen verschlechtert hatte. Er hatte es für ein gutes Zeichen gehalten. Man musste eine Wunde erst aufreißen, bevor sie richtig verheilen konnte. Seine Sorge stieg allmählich an, da es seinem Sohn nicht besser ging, egal was er mit der Hexe machte.

Daniel musste erst den Schock überwinden, dass die Hexe ihn betrogen hatte. Das sagte Jophiel sich selbst. Aber er wollte sich nicht der Wahrheit stellen, die unweit seiner Überlegungen lauerte. Daniel kämpfte nicht gegen die Verbindung an, die er zu der Hexe hatte. Stattdessen tat er gar nichts. Seine Flügel welkten. Wenn er es so weiter geschehen ließ, könnte sein Sohn sterben.

Er schaute auf eine Taschenuhr, die er im Inneren seiner Uniform aufbewahrte.

„Es ist Zeit für die zweite Behandlung."

Er schickte sich an, zu gehen, nicht ohne aber die golden angelaufene Feder vom Boden aufzuheben. Er betrachtete sie nachdenklich im Licht der Öllampen. „Iss deine Mahlzeit, Daniel. Du musst zu Kräften kommen."

Daniel wusste, wohin der Mann ging, der sein Vater war. Schmerz flutete seinen Körper alleine wenn er an ihren Namen dachte. Nicnevin.

Er konnte sich nicht tiefer in seine Gedanken zurückziehen, da ein Soldat ihm ein Tablett vor die Nase stellte. Dampf stieg von dem warmen Braten auf, womöglich ein im Wald erlegter Hase. Sie gaben sich Mühe, gutes Essen für Daniel zuzubereiten. Daniel setzte sich auf und aß mit rohen Händen. Es befriedigte seinen knurrenden Magen, aber ansonsten spürte er nichts. Es war nicht geschmacklos, dennoch fehlte die Verbindung zu seinen Geschmackssinnen. Er schmeckte nicht, dass es knusprig vom Lagerfeuer war, oder spürte die Wärme. Es war so fade. Sein Kiefer bewegte sich automatisch, als würde er auf einem Stück Papier herumkauen. Er fühlte sich nicht gesättigt nach dem Beenden des Essens. Da war eine große Leere in ihm und die konnte nicht mit Essen gefüllt werden.

Stonegrave, Schule der Engel und HexenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt