Morgens reihte ich mich in der Kantine in eine lange Schlange ein. Ich hatte meinen Alarm verschlafen und Verónica ließ sich einiges an Zeit, bevor sie mich aufweckte. Sie selbstverständlich war schon wach und aufgehübscht, wenn man ihren Stil in der Mischung aus einer englischen altertümlichen Adeligen, nur umgekrempelt zu einer gruseligen Gothic-Puppe, so bezeichnen konnte. Sogar ihre Augenringe waren weniger markant, obwohl sie im Gegensatz zu mir nicht eingedöst war. Charmanterweise weckte sie mich mit dem kurzen Satz „Erhebe dich zeitig, sonst erwachst du in der Ruhe der Toten", und ließ dann die Tür donnernd hinter sich zufallen. Dank der umsichtigen Art meiner neuen Mitbewohnerin war ich nun komplett übermüdet, aber immerhin rechtzeitig zum Frühstück erschienen und reihte mich unter meine Mitschüler, während ich missmutig beobachtete die Verónica in einiger Entfernung veganen Black Pudding auf ihrem Teller häufte. „Gut geschlafen?", fragte eine männliche Stimme hinter mir. Merlin, in dessen langen Haaren ein wirrer Knoten wie ein Nest thronte, hatte dieselben finsteren schwarzen Augen wie am Tag zuvor, aber sein Gesicht sah deutlich bleicher und müder aus. „Wahrscheinlich besser als du", merkte ich großzügig an. Seinem Auftreten nach zu urteilen hatte er mich an Schlaflosigkeit in der Nacht überboten. „Ich versuche hinter den Feuerspruch von Hui Lus Kürbisschale zu stoßen", gab er maulend zu fast wie ein kleines Kind, das die Wahrheit nicht aussprechen wollte. „Warum schluckst du deinen Stolz nicht herunter und fragst den anderen Jungen, Luzifer, nach seinem Spruch?", wollte ich wissen. Er presste die Lippen aufeinander, bis sich sein Kinn runzelte. „Ich kann es alleine herausfinden. Selbst wenn er mir den genauen Wortlaut sagen würde, würde mir das nichts bringen. Komplexere Sprüche erfordern eine individuelle Interpretation der jeweiligen Hexe, die sie ausspricht." Als ich ihn nur verwundert anschaute, fügte er hinzu: „Dir würden doch nicht meine Schuhe passen, nur weil ich sie dir ausleihe, oder?"
„Das ist ein Bild, welches wir alle ganz schnell wieder vergessen möchten." Ry und einige seiner Engelfreunde schlenderten an uns heran und er legte grinsend einen Arm um meine Schulter. Merlins Gesicht wurde steinern, als er zu Ry und dann wieder zu mir blickte. „Spät dran für die Kantine?", fragte Ry mich im Plauderton und ignorierte Merlins eingefrorene Miene. „Oh...ja, ich habe verschlafen", antwortete ich, verunsichert, ob ich den Atmosphärenwechsel ebenfalls ignorieren sollte. „Du solltest mit uns kommen, Callie. Wir dürfen die Schlange überspringen, du weißt schon, Privilegien des Abschlussjahrgangs und so."
Zögerlich blickte ich zu Merlin, dem dieses Angebot offensichtlich nicht galt, doch dieser starrte weiterhin Ry an. Nach einem Moment bildete sich ein kleines bitteres Lächeln um seine Mundwinkel. „Ja, du solltest mit ihnen gehen, Newsland. Scheinst ja schon die perfekte Partnerschaft geschlossen zu haben."
Ich verließ meinen Platz in der Schlange und blickte ihn über die Schulter ein letztes Mal an. „Wir sehen uns später?", versuchte ich eine höfliche Abschiedsfloskel.
„Wohl kaum", patzte Merlin Maleficus zurück.
„Ich wusste gar nicht, dass du Merlin kennst." Ry sagte es ganz locker, aber hinter seinem unbekümmerten Ton vermutete ich eine tiefere Bedeutung. Aber was konnte ich schon sagen. Ich war definitiv kein Morgenmensch, während Ry eindeutig zu den frühen Vögeln zählte. Sorgfältig angezogen, die blonden Haare perfekt frisiert und munter ein Lied vor sich pfeifend schob er mich mit sich her. Vielleicht interpretierte mein übermüdeter Verstand zu viel in die Situation, aber ich hatte definitiv Anspannung zwischen den beiden bemerkt.
„Er ist in meiner Klasse. Woher kennst du Merlin?"
„In deiner Klasse? Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Er wiederholt zum zweiten Mal." Er lachte erheitert, als würden wohlige Erinnerungen in ihm aufsteigen. „Früher, da war Merlin mal in meiner Parallelklasse. Eigentlich war er ein witziger Kerl, das kann man sich jetzt gar nicht mehr vorstellen. Er hat viele lustige Streiche gespielt, den Lehrern und Schülern gleichermaßen." Rys Lächeln schwand und wich einem nachdenklicheren Ausdruck. „Bis er es einmal zu weit getrieben hat." Bevor ich eine weitere Frage stellen konnte, waren wir vor dem Buffet angelangt. Er bestellte sich seine Pancakes mit Bacon, Trüffelkäse und Honig und bei dem Anblick des riesigen Haufens an golden gebratenen Teig lief mir das Wasser im Mund zusammen. Vergessen war die Ablage mit zu verbranntem Toast auf der Hexenseite, für das ich geplant hatte ein extra Stück Butter mitzunehmen um den trockenen Geschmack zu überspachteln. Es wurde nur noch schlimmer, je mehr Köstlichkeiten ich Ry auf sein Tablett packen sah: frisch gebackene Kekse, ein Spiegelei in einer Gemüsepfanne, Potato Scones, ein frisches Fischfilet mit Zitrone, gepresster Saft... dann wagte er es doch tatsächlich nach dem Kaviar zu greifen. Ry pausierte, als sein Tablett fast schon überfüllt war. „Warum nimmst du dir nichts Callie? Hast du keinen Hunger?"
„Ich hab meinen Appetit verloren." Mein Magen, der just in diesem Moment knurrte, protestierte das Gegenteil.
Ry verkniff sich ein Grinsen. „Dachtest du, dass ich dich nur zum Privileg einlade, die Schlange zu übergehen?" Mit einem Zwinkern griff er nach meinem leeren Tablett und drückte mir stattdessen sein volles in die Hand. „Solange du an der Stonegrave High bist, möchte ich dir die beste Schulerfahrung bieten, die du bekommen könntest. Also, was hättest du gerne?" Mit einer Selbstverständlichkeit griff er schon nach einem Smoothie, mit dem ich geliebäugelt hatte. Eine Frau hinter der Theke vom Kantinenpersonal hielt ihn zurück. „Nur für Engel", ermahnte sie ihn. Er schenkte ihr seinen naivsten Hundeblick. „Ich bin doch ein Engel, oder nicht?" Ihr Mund klappte auf, während sie nicht entscheiden konnte, ob sie Ry oder mich zur Ordnung rufen sollte, und als sie nichts sagte, lud Ry seelenruhig weiter Sachen auf mein Tablett, von denen er meinte, dass ich sie unbedingt mal probieren müsste. Schließlich endeten wir an dem Tisch seiner Freunde und auf meinem Tablett waren Köstlichkeiten ähnlich hoch wie auf seinem angehäuft, die mich durch den ganzen Tag ernähren konnten. Genüsslich schob ich eine Gabel Spaghetti mit einer Zitronen-Parmesan-Basilikum Sauce in meinen Mund, während die Dämonenklaue wie selbstverständlich schon die frisch gebackene Waffel mit Waldbeeren zerteilte. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so effektiv isst", merkte ein Kumpel von Ry an. „Danke, Ry. Das ist das beste Frühstück seit einer Weile", nuschelte ich zwischen zwei Bissen, viel mehr Zeit zum Sprechen hatte ich nicht, wenn ich alles aufessen wollte, bevor die Glocke zum Unterricht läutete. „Nein, das beste Frühstück überhaupt!"
Ry schien ebenfalls von meinem Essverhalten so fasziniert zu sein, dass er mir öfter verstohlene Seitenblicke zuwarf, anstelle sich um sein eigenes Essen zu kümmern. „Vielleicht könntest du dich an das beste Frühstück auf Erden gewöhnen, wenn du öfter mit uns essen möchtest." Ich blickte zaghaft lächelnd in die Runde und in Rys hoffnungsvolles Gesicht. „Wenn ihr mich dabeihaben möchtet? Ich wüsste nicht, wie ich bei dem guten Essen jemals ablehnen würde."
„Schon wieder ein neues Groupie", spöttelte jemand. Drei Mädchen liefen am entgegengesetzten Ende an unserem Tisch vorbei. Das blonde Mädchen, welches gesprochen hatte, kam mir irgendwoher bekannt vor. Mit einem finsteren Blick, der aussagte, dass sie mich in Stücke reißen wollte, zwirbelte sie eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. „Morgen, Ry. Greifst du inzwischen auf Bestechung zurück, um das zu bekommen was du haben möchtest?."
Ich merkte, wie Ry neben mir angespannter wurde. „Saeliah...", sagte er mit einem warnenden, kühlen Unterton. Das Mädchen, Saeliah, ließ ihre Haarsträhne los, als hätte sie prompt das Interesse daran verloren und stürmte stattdessen mit ihren beiden Freundinnen im Schlepptau in eine andere Richtung. „Ist ja auch egal. Ich habe mich nur gefragt, warum du plötzlich an einer Hexe interessiert bist, Othryiel. Es kann ja nur das eine sein."
Sobald das Mädchen und ihr Gefolge aus Möchtegern-Einschüchterern gegangen war, drehte ich mich langsam zu Ry um. „Wer zur Hölle war das? Und dein voller Name ist Othryiel?"
Ry verzog das Gesicht. „Ich hasse meinen langen Namen..."
„Das war Liah", meldete sich ein anderer Junge an unserem Tisch und verdrehte die Augen. „Sie lässt Ry einfach nicht in Ruhe und versteht nicht, dass sie keine Ansprüche auf ihn hat. So ist das unter uns Engeln meistens. Es gibt einige, die zu besitzergreifend werden."
Seufzend raufte Ry sich die Haare. „Falls sie dir jemals auf die Nerven geht, sag mir Bescheid. Ich weiß, wie man mit ihr umgehen muss."
Mit einem mulmigen Gefühl schaute ich den drei Mädchen hinterher, die ihre leeren Tabletts abräumten. „Sie versucht dich gegen deinen Willen zu umgarnen? Ist sie... deine Stalkerin?" Alle am Tisch verfielen ins Lachen, was mich nicht unbedingt erheiterte. Ry, der meine Verstimmung bemerkte, griff beruhigend nach meiner Hand. „So weit würde ich nicht gehen", erklärte er mir. „Es ist kompliziert wegen unserer Vergangenheit... um es kurzfassend zu sagen ist es eine Beziehung, die unsere Eltern unbedingt wollten, aber ich habe Saeliah nie in diesem Licht gesehen." Die Glocke zum Unterrichtsbeginn klingelte und Ry griff nach meinem und seinem Tablett. „Ich nehme das gleich mit, ist das okay?" Ich nickte, leicht abwesend. Die ganze Situation hatte zu viele Erinnerungen an Alfonso Ward, den Stalker von meiner Mutter, in mir geweckt. Ich hatte nicht über ihn nachdenken wollen, aber es war einfach geschehen.
„Callie Newsland", erklang Mrs.Ravens Stimme plötzlich metallisch aus Lautsprechern, die ich nirgendwo sah. „In mein Büro, bitte."
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Stonegrave, Schule der Engel und Hexen
FantasíaAls Callie Newsland mit ihrer Mutter zurück in die schottische Kleinstadt Stonegrave zieht, stellt sich ihr Leben komplett auf den Kopf. Sie möchte nur schnellstmöglich Freunde finden und sich trotz des schmerzhaften Verlustes ihrer ehemaligen Heima...