Mir war der kleine Trödelladen in einer Nebenstraße bisher nie aufgefallen, mit seiner unscheinbaren braunen Holzfassade und dem Schaufenster mit dem goldenen Schriftzug „Anderson Antikwaren". Das Fenster war voll gestellt mit einem Regal, in dem keine aufgewerteten Vintageprodukte standen, so wie ich sie vielleicht in London entdeckt hätte, sondern lauter, teilweise gruseliger, Krimskrams: ein abgetrennter Puppenkopf, dem ein Auge fehlte, eine alte Postkarte, die wohl niemand mehr verschicken würde, verstaubte Münzen in fremder Währung, eine Gitarre mit kaputten Saiten, eine Glasscherbe, eine zerkratzte Vinylplatte. Es waren keine Dinge, die das Interesse eines Kaufes bei mir auslösten, mich aber dennoch faszinierten.
„Anderson ist auch ein Traditioneller?", fragte ich meine Mutter, bevor wir den Laden betraten.
„Wie ich es in Erinnerung habe, ist sein Geschäft denen gewidmet, die Verlorenes versuchen wiederzufinden, von dem sie aber gar nicht wissen, dass sie es vermissen. Deswegen geht der Laden manchmal verloren. Er ist aber kein sehr gesprächiger Mensch, so genau kann man ihn nicht zu der Rolle seiner Familie unter den Traditionellen befragen", informierte mich Mama.
Wir traten durch die Eingangstür und ich hatte beim Betreten die Ahnung, dass ich die Türglocke nicht hören konnte, weil ich mich meinte zu erinnern, wie sie ertönen sollte. Es war ein seltsames Gefühl, wie ein Deja-Vu von einer Sache zu haben, die nicht eintrat. Der weißhaarige Mann an der Kasse, einem uralten Register mit fehlenden Tasten, nickte uns lautlos zu und schien tief damit beschäftigt, zurück in seinen Gedanken zu versinken und uns zu ignorieren. Leise streiften wir durch den Laden, der eine ganz andere Stimmung hatte als Madame Leroys Boutique. Er war kleiner, genauso in die Jahre gekommen, aber nicht so chaotisch. Alles hatte seinen Platz auf den Regalen, die bis zur niedrigen Decke ragten und kleine, enge Gassen bildeten, in denen man sich verirren konnte. Wenn ich etwas hochhob, hatte ich das Bedürfnis es genau wieder dort abzustellen, wo ich es her hatte, dort wo die dicke Staubschicht auf dem Regal um den Gegenstand fehlte. Ich suchte nach nichts genauem und war deshalb so überrascht, als ich Dinge fand. Pinke Haargummis mit einer großen Perle, die ich als Kind innig geliebt und irgendwann verloren hatte. Einen Schnürsenkel, den ich an meinen Sneakers ausgetauscht hatte, weil Einfarbigkeit langweilig sei, hatte Joeline gesagt. Wir hatten die Schnürsenkel austauschen wollen, aber dann hatte ich ihn irgendwo verlegt und es vergessen und jetzt die Schule gewechselt. Ein Zahnstocher, der mir irgendwann unter den Küchenherd gerollt sein musste und den, Gott bewahre, selbst Ms. Crow nicht gefunden hatte. Lauter Kleinigkeiten, deren Existenz ich komplett vergessen hatte, aber hier waren sie auf einmal, um mich daran zu erinnern. Ich streifte weiter durch die Gänge und sammelte diese Kleinigkeiten, bis ich Mama fand. Sie hielt einen kleinen Handspiegel in den Händen, von dem ich gar nicht mehr wusste, dass sie ihn mal besessen und dann verloren hatte, und lächelte als sie meine Funde bemerkte. „Ms. Crow wird sauer wegen des Zahnstochers sein", bemerkte sie im Flüsterton. Ich verdrehte übertrieben die Augen. Zusammen suchten wir weiter die Regale ab. „Dieser Ort ist so cool." Kurz war ich traurig, dass ich Joeline gar nicht davon erzählen konnte. Immerhin würde ich ihr sagen können, dass ich den Schnürsenkel wieder gefunden hatte.
„Wie bezahlen wir eigentlich für diese Sachen?", wunderte ich mich. Schließlich gehörten sie ursprünglich uns, oder nicht? Meine Mutter zuckte mit den Schultern. „Wir bezahlen gar nicht. Wir spazieren einfach wieder raus, mit den Sachen, die wir gefunden haben."
Sie senkte ihre Stimme zu einem kaum wahrnehmbaren, dramatischen Wispern. „Jedoch gibt es eine Regel. Für jeden Gegenstand, den du mitnimmst, der dir nicht gehört, musst du einen deiner eigenen Gegenstände zurücklassen. Einen Gegenstand, den du hier einmal findest, wirst du aber nie wieder finden, wenn du ihn zurücklässt."
„Das klingt ganz schön dramatisch." Ich fragte mich, warum man das tun sollte, wenn der fremde Gegenstand keinen Wert für einen hatte. Man hatte ihn schließlich nicht selbst verloren.
Meine Mutter griff nach einem Papier auf dem Regal, einem rechteckigen Foto, und ließ es schlagartig wieder fallen. Ich hob es auf. Das Foto wurde von der Terrasse unseres Hauses gemacht, es war leicht verwackelt, vermutlich weil die Kamera schnell auf den Holzbalken der Terrassenbrüstung abgestellt worden war. Eine viel jüngere Version von Mama lehnte am Geländer, das schwarze Haar zu Locken gedreht in der Mode der 2000er mit einer low-waist Jeans und einem bauchfreien T-Shirt unter der Strickjacke. Neben ihr an dem Tisch saß Rosaline, sie sah fast so aus, wie meine Mutter jetzt aussah, aber ein paar Jahre älter. Ihr Gesicht hatte Lachfalten, jedoch auch ernstere Züge, und ihrer Haltung haftete etwas Unentspanntes an, wie sie da mit geradem Rücken in der Mitte saß und ihre Augen sich wissend durch das Bild bohrten. Neben ihr, ebenfalls am Tisch, saß ein Junge mit kurzem dunkelbraunem Haar in einer Schuluniform. Sein Lächeln wirkte friedlich, aber ein Ticken schelmisch und seine dunklen Augen hatten einen klugen Glanz, der mich fesselte. Ein Gesicht, welches mir bekannt vorkam, hatte ich es nur nie gesehen. Mama schnappte mir das Bild aus der Hand und stellte es in das Regal zurück, in ein höheres Fach, sodass es aus meinen neugierigen Blicken verschwand. „Es ist ein Bild von dir und Oma Rosaline", entfuhr es mir und ich reckte den Hals. „Du musst darauf ziemlich jung gewesen sein."
„In deinem Alter", erwiderte sie in einem schärferen Tonfall als beabsichtigt, was ich daran erkannte, dass sie zusammenzuckte. Sie griff nach meiner Hand. „Lass uns jetzt gehen."
„Wer ist der Junge auf dem Bild?", fragte ich, anstelle ihr meine Hand zu geben.
„Er ist niemand mehr. Er war der Lieblingsschüler deiner Großmutter. Mein bester Freund."
„Das tut mir leid. Ich verstehe nicht, warum du das Bild nicht mitnehmen möchtest."
Sie strich mir über den Kopf. „Es gibt da noch eine Sache über Mr.Andersons Antikwarenladen. Manche Dinge, die man hier sucht, möchte man gar nicht wiederfinden."
Mama drehte sich um und ging. Ich hörte die Türglocke bimmeln, da ich sie vergessen hatte. Meine Hand ballte sich zur Faust. „Warum hat sie immer noch Geheimnisse vor mir? Nach allem das ich inzwischen weiß?", flüsterte ich, die Lippen zusammengepresst. Ich war erwachsener, als sie dachte. Ich verdiente es, eingeweiht zu werden.
Ich, summte der Dämon fröhlich in meinem Kopf, der bisher so still gewesen war. Ich bin der Einzige, der dir die Wahrheit erzählt. Der Einzige, dem du vertrauen kannst, dir nichts vorzuenthalten.
Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich gegen das Regal, auf Zehenspitzen, um meine Hand nach dem höchsten Fach auszustrecken. Das Foto erwischte ich nur mit meinen Fingerspitzen. „Du wolltest mich dazu bringen, dass ich qualvoll von dir befallen werde, nur um aus Rosalines Spiegel zu entkommen. Du lügst die ganze Zeit."
Unterstellungen!, protestierte Astaroth fachmännisch wie ein Anwalt. Ich half dir bisher immer dabei, Rätsel zu lösen. Ohne mich wärst du niemals so weit gekommen.
„Vielen Dank auch!", erwiderte ich ironisch und fluchte innerlich, als das Bild noch weiter nach hinten rutschte. „Auf eine Schule, auf die ich niemals gehen wollte mit lauter gemeingefährlichen Mitschülern, die einen verfluchen können und dazu ein hässliches Handaccesscoire in Form von monströsen Krallen-Nägelextensions. Auf diese Hilfe hätte ich sehr gut verzichten können."
Ich stimme dafür, dass wir das Bild mitnehmen. Ich kann spüren, dass du auf dafür bist, kleine Newsland.
Plötzlich hob sich mein Zeigefinger entgegen meines Zutuns und streckte die Fingerkuppe so weit, bis der Nagel das Bild aufspießte und zu meiner Handfläche zog. Überrascht strauchelte ich zurück. Das Foto segelte neben mir auf den Boden. Diese gezielte Bewegung hatte ich nicht ausgeführt, ich hatte die genaue Position des Bildes ja nicht einmal sehen können. Ich hatte meinen Finger nicht bewegt.
Eine Hand wäscht die andere, sagte Astaroth amüsiert.
Mr. Anderson musste ein tolles Bild von mir gehabt haben, wie ich aus dem Laden stürmte und meiner Hand zuflüsterte, dass sie das nie wieder machen sollte und gefälligst mir anstelle eines blöden Dämons zu gehorchen hatte. Astaroths Kichern konnte er sicher nicht hören. Der Traditionelle Anderson war zu sehr auf sein kaputtes Kassenregister fixiert, das mit einem Ton aufging, damit er etwas darin verschwinden lassen konnte... einen Zahnstocher. Oder, was war es nun? Ich hatte es sofort vergessen. Ich bemerkte, dass ich etwas vergessen hatte, als ich den Laden verließ und Mama draußen auf mich wartete. Ms. Crow würde es mir sicher übelnehmen, aber was genau war es? Was ich vergessen hatte, es war zumindest nicht das Foto von meiner Mutter, welches ich in der Innentasche meines Mantels versteckte.
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Stonegrave, Schule der Engel und Hexen
FantasyAls Callie Newsland mit ihrer Mutter zurück in die schottische Kleinstadt Stonegrave zieht, stellt sich ihr Leben komplett auf den Kopf. Sie möchte nur schnellstmöglich Freunde finden und sich trotz des schmerzhaften Verlustes ihrer ehemaligen Heima...