Wie wurde man die beste Spielerin in Alia Omnia? Um diese Frage zu beantworten, verbrachte ich die nächsten Abende damit, länger aufzubleiben und mir alles, was ich zu der seltsamen Sportart fand, durchzulesen. Ich startete in der Bibliothek, in der die Stapel mit den Alia Omnia- Büchern langsam höher wurden als die meiner alten Schulbücher. Sobald meine angestrengten Augen bei dem gedimmten Licht der Bibliothek zu erschöpft waren und ich glaubte, selbst mit den magischen Kerzen kein neues Wissen aufsaugen zu können, wechselte ich auf mein Zimmer und kuschelte mich mit einem aufgeschlagenen Buch unter die Bettdecke. Während ich Verónica dabei lauschte, wie sie auf ihre Laptoptastatur einhackte und auf Spanisch fluchte, huschten meine Augen über Wörter, bis sie mir wie außerirdische Gebilde vorkamen und ich einschlief.
Dazu stand ich morgens früher auf, um zu trainieren. Um sechs Uhr morgens, wenn der Tag zuerst düster und dann schwarzblau und schließlich zögerlich grau und matt erschien, bevor die Sonne sich aus den Wolken löste: diese Augenblicke wurden zu meinen liebsten Tagesstunden, während ich über den Sportplatz joggte. Ich schlüpfte leise in meine Sportschuhe, obwohl ich mich nicht darum sorgen musste, meine Zimmermitbewohnerin zu stören, da sie eh schon wach war und mir manchmal sogar einen Tee machte. Ich genoss die Kühle des Morgens, während ich mich draußen dehnte, genoss wie sie versuchte, sich in meinen Körper zu schleichen bevor ich loslaufen konnte, und wie ich sie mit jedem kraftvollen Schritt, mit jeden warmen Atemwölkchen abschüttelte. Obwohl ich von meiner neuen Routine todmüde sein sollte, fühlte ich mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Vielleicht lag es an dem Tee meiner Vampirin, der neben getrockneten Mateblättern lauter kuriose Inhaltsstoffe enthielt, von denen sie mir nicht erzählen wollte, da es ein Familienrezept wäre, magisch aufgewürzt. Vielleicht lag es aber daran, dass ich stattdessen im Unterricht meine Nickerchen abhielt.
Wenn ich nach meinem Workout erledigt auf den Boden plumpste und schwer atmend in den Himmel starrte, wurde mir klar, dass ich mich hier – zwischen all den Hexen, Engeln und allem dazwischen – näher zu dem Ich verbunden fühlte, das ich vor meinem Umzug in London war, als an der Denso High. Das fühlte sich gut an. Ich hatte einen Teil von mir weggesperrt, seit der Sache mit Mamas Stalker. Ich hatte das Gefühl gehabt, nach nicht viel fragen zu dürfen, solange wir nicht in Sicherheit waren. Aber wer konnte mir schon etwas anhaben, wenn ich auf mein hässlichstes, ehrlichstes und krallenbesetztes Ich reduziert war und mich selbst dann ein Engel mit strahlend blauen Augen gut fand? In dieser neuen Welt konnte ich alles tun, was ich wollte. Ich beobachtete, wie ein Rabe am Himmel seine Kreise zog, auf der Suche nach kleiner Beute, und dabei leise krächzte.
Ich sollte Oma Rosaline danken, anstelle Angst davor zu haben, ihre kauzigen Fußstapfen in dieser magischen Welt nicht ausfüllen zu können. Sie hatte in ihrem Leben einen solch großen Eindruck hinterlassen, dass mich viele Lehrer in Ruhe ließen, wenn ich ihren Unterricht nutzte, um Schlaf nachzuholen. Sie hatte auch Alia Omnia gespielt. In den alten Büchern, in denen professionelle National- und Internationalspiele aufgezeichnet wurden, fiel oft ihr Name. Newsland, Spielerin Nummer 13 der ersten schottischen gemischten Mannschaft. Ihre Spiele schaute ich mir immer genau an. Sie war meistens eine Jägerin und arbeitete mit Spielerin 10, Raven, zusammen. Weder von Grandma noch von meiner Schuldirektorin hatte ich gewusst, dass sie eine professionelle Sportkarriere gehabt hatten. Es veränderte meine Achtung und meinen Blick auf die Person, die ich gedanklich als alte, erhabene aber gebrechliche Lady abgespeichert hatte. Ich riss ein Bild ihrer Mannschaft aus einem der Bücher aus und befestigte ihn an meiner Zimmerwand mit einem Klebestreifen. Oma Rosalines kluge, dunkle Augen ruhten immer auf mir, wenn ich mich morgens fertig machte. Ich fühlte mich, als würde ich sie als Menschen besser verstehen lernen, wenn ich die Aufstellungen ihrer Spiele analysierte.
„Die wichtigste Rolle, die in Alia Omnia vergeben werden kann, ist die des Königs", überlegte ich eines Abends laut. Verónicas dunkle Haare fielen ihr in Locken über den Rücken und ich konnte ihr Gesicht im Halbprofil erkennen, welches von dem Bildschirmlicht in ein kränkliches Blau gehüllt wurde. Sie knabberte an ihrem Fingernagel herum, um sich selbst vom Fluchen in ihr Mikrofon zu hindern. Ich wunderte mich echt, wie ihre Finger angemessen manikürt aussehen konnten, wenn sie sie so behandelte.
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Stonegrave, Schule der Engel und Hexen
FantasyAls Callie Newsland mit ihrer Mutter zurück in die schottische Kleinstadt Stonegrave zieht, stellt sich ihr Leben komplett auf den Kopf. Sie möchte nur schnellstmöglich Freunde finden und sich trotz des schmerzhaften Verlustes ihrer ehemaligen Heima...