29. Verlaufen

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 Nach meiner ersten Unterrichtsstunde wäre ich beinahe von einem Phönix verbrannt worden und hatte meinen ersten Verehrer, der mich mit seinen Hexenkünsten für sich gewinnen wollte.

„Merlin ist etwas speziell. Er wiederholt das Jahr schon zum zweiten Mal, weil er so viele Hexenstreiche spielt, die verhindern, dass man ihn bestehen lässt", erklärte mir Valruv. „Er ist eine seltsame Mischung aus talentiertem Einzelgänger und gleichzeitig ein Klassenclown." Fürwahr eine einzigartige Kombination, wie ich empfand. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was Merlin nun auf einmal von mir wollte. Generell versuchte ich zu verstehen, warum alle Schüler der Stonegrave High so anders zu mir waren, seit sie vermuteten, dass ich eine Hexe war. Ich konnte das Gefühl nicht abschrecken, dass der Name Newsland in diesen Kreisen gewisse Erwartungen mit sich brachte, dass mein Verhalten bis aufs kleinste geprüft und sowohl hinter meinem Rücken als auch offen ins Gesicht über mich diskutiert wurde. Die ganze Schule mit den vielen imposanten Steingängen, in denen man sich stundenlang verlaufen konnte -und den tratschenden Schülern hinter jeder verschachtelten Ecke- ermüdeten mich.

„Merlin war richtig sauer, hat er Luzifers Zauber zuvor nicht gekannt. Jetzt liegt er auf der Lauer und sucht so lange bis er die passenden Worte hat zur Hand."

„Merlin wird sich in seinem Zimmer verkriechen, bis er den Spruch zum Erwecken eines Feuervogels in einem seiner vielen Bücher findet", übersetzte Valruv Medeas Reimrätsel für mich. Die beiden waren mir den ganzen Tag gefolgt. „Er ist sehr perfektionistisch, was seine Hexenkräfte angeht und dass jemand einen Spruch kannte, den er nicht aufsagen könnte, hat ihn in seinem Stolz verletzt."

„Also wird er eine Weile nicht in den Unterricht kommen?", fragte ich hoffnungsvoll.

„Merlins Gesicht siehst du fast nie im Unterricht", betonte Medea fröhlich.

In meiner zweiten und dritten Stunde hatte ich Naturkunde. Mrs.Grinlaw, eine alte, etwas betagte Frau gekleidet in überdimensionalen Blumenmustern, erklärte die chemische Wirkungsweise des Gifts des gewöhnlichen Adlerfarns Pteridium aquilinum, wenn Tiere von ihm fraßen. Nach jedem dritten Satz vergaß sie was sie schon erzählt hatte und berichtete von vorne, was die gesamte Klasse zum Aufstöhnen brachte. Diese zwei Stunden gaben mir einen Anschein der Normalität des Lebens eines Schülers. Sie erinnerten mich daran, wie Joeline neben mir auf der Bank saß und sie gemeinsam mit mir die Augen verdrehte und theatralisch seufzte, wenn unser Geographielehrer dasselbe Thema von der letzten Stunde in einem ähnlichen Wortlaut durchkaute. Wie sie mir quer durch den Klassenraum Grimassen schnitt und textete, selbst als er uns auseinandersetzte. Diese Gedanken ließen mich etwas entspannen. Deswegen war ich auf die nächsten verstörenden Unterrichtsstunden an der Stonegrave High gar nicht vorbereitet. Valruv und Medea liefen hinter mir her, führten eine lockere Unterhaltung und wiesen mich gelegentlich süffisant darauf hin, dass wir seit einigen Minuten in die falsche Richtung liefen. Ich drehte und wendete die Karte des Gebäudeplans, die ich von Mrs.Raven mitsamt meines Stundenplans erhalten hatte, in meinen Händen, ohne daraus schlau zu werden. „Wollt ihr mir nicht einfach sagen, wo es lang geht?", murmelte ich, aber nicht laut genug, dass sie mich hören konnten. Ich straffte meine Schultern. Der pickelige Junge und das rothaarige Mädchen waren freundlich, aber sie waren nicht meine Freunde. Ich war ihre neue Beschäftigung, ein Mittel gegen ihre Langeweile. Was nicht bedeuten sollte, dass ich nicht trotzdem etwas von ihnen lernen konnte, über diese Schule und für meine kurzweilige Anwesenheit in ihren Gemäuern. Nur dass sie sich über mich lustig machten, musste ich ertragen.

Ich trat in einen neuen Gang und verlangsamte meine Schritte. Ein Geruch fing sich in meiner Nase, so hauchzart, dass ich fast meinte ihn mir einzubilden. Es roch nach Waschmittel, und darunter eine feine Note von etwas anderem... war es der Geruch von Essen? Ich seufzte übertrieben laut über mein eigenes Unglück, als mir gewaschene Teller und Lebensmittelüberreste in den Sinn kamen. „Ist das der Weg zur Mensa?", fragte ich mit einem Anflug der Hoffnungslosigkeit. Wie hatte ich es geschafft, im Kreis zu gehen?

Medea griff von hinten nach meinem linken Arm. Sie schlängelte ihren eigenen Arm durch ihn und hakte sich bei mir unter, als wären wir die besten Freunde. Ein Schauer rann mir über den Rücken. Mein Körper versteifte sich instinktiv dort, wo ich Kontakt zu ihrem dünnen Arm hatte. Die Dämonenkralle an meinem rechten Arm begann zu pochen und ich ballte sie zu einer Faust zusammen, bis sich die Krallen in die verhärtete Haut meiner Handballen bohrten. „Nein, hier kommen wir nicht an der Mensa an. Glaub mir Callie, du bist ganz nah dran", summte sie. Ich riss mich von ihr los, um die Karte um 180° zu drehen und weiter in die Richtung des Ganges zu rasen, mit einem Sicherheitsabstand zwischen uns. Mein Atem ging schnell und flach, obwohl ich mich zu kontrollieren versuchte. Mein Sichtfeld verschwamm vor unterdrückter Wut, bis sich meine Augen auf die Dämonenkralle fixierten, dessen monströses Vorhandensein erstaunlich beruhigend war. Du magst es nicht, wie sie tut, als sei nichts vorgefallen und ihr wäret gut miteinander befreundet, formulierte der Dämon meine Gedanken. Du denkst, du müsstest es ertragen, damit etwas wie der Nachtmahr nicht nochmal passiert, aber ich kann dir helfen. Du hast mich diesem Mädchen vorgezeigt, um dich zu beschützen, aber hast du nicht die Ehrfurcht in ihren Augen gesehen? Sag die richtigen Worte, meine kleine Newsland, und ich helfe dir Medea für immer leiden zu lassen.

Nach dieser Kampfansage, die der Dämon so stolz vorgetragen hatte, als wäre er ein Hund der einen Ball holen konnte und mir dies nur unter Beweis stellen wollte, fächelte ich mit der Karte vor meinem Ohr, als müsste ich eine Fliege vertreiben. Warum wurde ich heute so vielen Geduldsproben unterzogen? „Endloses Leiden ist sowas von uncool", murmelte ich.  „Komplett aus der Mode."

Hinter mir tauschten Valruv und Medea ein Schulterzucken aus, und dann hakte sie sich lachend bei ihm unter. Ich lief einen Schritt schneller.  

Stonegrave, Schule der Engel und HexenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt