Die Denso war eine gute Schule. Ich befreundete mich schnell mit Joeline und ihrem Bekanntenkreis und bei der Fußballmannschaft konnte ich auch mitmachen, wenn gleich sie nicht sonderlich herausragend spielten. Das eine Problem war, dass mein Herz sich mit jeder Faser nach London sehnte. Nach meinen alten Freunden, nach meiner Mannschaft, nach dem Großstadtleben mit richtigen Boutiquen und anständigen Supermärkten. Auch Mama konnte ich es ansehen, dass ein Teil von ihr fehlte. Ihre Arbeit als die Sekretärin des Bürgermeisters war sicher nicht schlecht, aber sie gehörte in die Finanzwelt Londons und der gesamten Welt. Sie wusste selber, dass sie viel mehr drauf hatte als Anrufe anzunehmen und Termine zu erstellen. Ich vermisste London, die Themse und den Big Ben, unsere kleine unordentliche Wohnung und das Schwimmbad um die Ecke. Mama vermisste es auch, das spürte ich einfach. Dies alles war nur wegen diesem einen widerlichen Kerl geschehen. Ich hasste ihn abgrundtief.
Eines Abends ging ich mit Joeline und weiteren Leuten zum Autokino, da endlich Moonlight Twelve lief. Sie freute sich so sehr darauf, mir den Film endlich zu zeigen. Eigentlich besaß sie ihn auch auf DVD, aber sie hatte darauf beharrt, dass er einzig und allein auf der großen Leinwand gut wirken würde. Wir saßen in einem rotlackierten Ford Oldtimer mit offenem Autodach. Die Sitze hatten wir in die Liegepostion gestellt und Popcorn, Schokolade und Limonade im Haltebecher und auf unseren Oberschenkeln abgestellt. Im Vorspann fielen mir die Jugendlichen neben uns in einem alten VW Käfer auf. Ich machte Joeline auf sie aufmerksam. Die meisten Jugendlichen von der Denso High kannte ich bereits, aber diese hier hatte ich noch nie gesehen. Joeline bestätigte meine Vermutungen mit einem für ihre Verhältnisse finsterem Blick in Richtung des Käfers.
„Die sind von der anderen Schule.", sagte sie.
„Alles arrogante Wichser, die sich ihre private Internatsschule leisten können und damit furchtbar angeben. Zwischen ihnen und uns Denso-Schülern herrscht eine Art inoffizielle Feindschaft. Sprich die lieber gar nicht erst an. Sie sind seltsam."
Möglichst unauffällig warf ich einen Blick auf die Gruppe durch meinen Seitenspiegel. So seltsam sahen sie gar nicht aus. Mit ihren glatten Hemden und Blusen sahen sie geschniegelt aus, aber vielleicht gehörte das zu ihrer Schuluniform? Oder der Gruppenzwang brachte sie dazu so sorgsam gebügelte Kleidung zu tragen. Es waren drei Jungen und zwei Mädchen. Eine lachte laut und ihre weißen Zähne blitzten im Dunklen auf. Auf einmal ergoss sich Popcorn über meinen Schoß.
„Mist.", fluchte Joeline.
Sie guckte mich an. „Ich dachte du würdest es halten."
Ich sammelte die Pappbox auf und wischte mir die weißen Krümel von der Hose.
„T'schuldigung.", murmelte ich. „Ich besorge uns eine neue Tüte."
Ich öffnete die Tür unseres Fords und machte mich auf den Weg.
„Beeil dich!", wisperte Joeline lautstark.
„Es fängt gleich an!"
Ich verdrehte die Augen und lächelte gleichzeitig. Joeline konnte mich sowieso nicht sehen, ihr Blick war wie gebannt auf die Leinwand gerichtet. Ich stiefelte zu den kleinen Verkaufsstand. Der Typ dahinter war nicht viel älter als ich, hatte fettige, mausbraune Haare und ein pickeliges Gesicht, in dem er sich abwesend kratzte. Er guckte mich mürrisch an, als ich zu ihm her geschlendert kam.
„Darf's noch was sein?" Genauso gut hätte er sagen können Verpiss dich. Vielleicht etwas weniger gelangweilt und ein Stück mehr gereizt. Ich verstand sein Verhalten nicht wirklich. Es sah nicht aus, als ob er irgendetwas anderes zu tun hätte.
„Ein Popcorn Medium bitte, gesalzen.", sagte ich. Er schnaubte, als ob das zu viel verlangt wäre.
Eine Hand legte sich plötzlich von hinten auf meine Schulter. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als hätte mich ein heißes Schüreisen berührt. Hinter mir stand ein Kerl, der mir komischerweise bekannt vorkam. Er war der Inbegriff eines Sunnyboys mit seinem leicht verlegenen Lachen, der sonnengebräunten Haut und verwuscheltes blondes Haar. Da erinnerte ich mich wieder. Es war einer der Typen aus dem Käfer, die von der anderen Schule.
„Sorry.", sagte er, immer noch strahlend lächelnd.
„Ich glaub ich hab dich verwechselt."
Ich erwischte mich dabei, wie ich in sein Lachen einstimmte.
„Kein Problem."
Er musterte mich neugierig.
„Bist du neu in der Stadt?"
„Kann man so sagen."
Er beugte sich dichter an mich heran und streichte mir mit der einen Hand durchs Haar. Einerseits war es ein schönes, kribbelndes Gefühl, irgendwie magisch, aber ich trat unauffällig einen Schritt zurück, wie um nach dem Kassenwart mit meinem Popcorn Ausschau zu halten. Es war schön, doch total seltsam, versuchte ich mir bewusst zu machen. Ein fremder Kerl, der mir einfach so in die Haare fasste. Joeline hatte erwähnt, dass ich mich nicht mit diesen Leuten umgeben sollte. Außerdem mochte ich meine Haare nicht, sie waren dunkelbraun und kräuselten sich ständig. Ganz anders als die schwarzen, glatten Haare meiner Mutter.
Der Typ lachte erneut, diesmal etwas verlegener. Seine blauen Augen richteten sich fast beschämt auf den Boden. Er hatte sehr schöne lange Wimpern.
„Sorry, wirklich, das muss jetzt schräg gewirkt haben. Da war nur so ein Dingsbums in deinen Haaren, Popcorn glaube ich."
„Oh.", machte ich und fuhr mit meinen eigenen Fingern durch die Strähnen. Tatsächlich. Ich ließ das klebrige Teil angewidert auf den Boden rieseln.
„Bestellung fertig. Macht 2,99 Pounds.", ertönte die gelangweilte Stimme des Kassierers hinter mir und ich drehte mich schnell wieder um, um ihn zu bezahlen. Er las das Geld auf ohne zu zählen und guckte noch viel gelangweilter über meine Schulter hinweg.
„Und was möchtest du, Ry?", fragte er monoton.
Ry. So hieß er also. Woher er und der Kassierer sich wohl kannten?
Ich hörte, wie aus dem Autokino Stimmen erklangen und schlagartig kam mir der Film wieder in den Sinn. Schnell zog ich mich aus der Affäre und lief zum Ford zurück. Die Autotür knarzte ein bisschen zu laut, weshalb eine meiner neuen Freundinnen vom Rücksitz mir ein aufgebrachtes „Shhh." zuwarf. Doch diesen Unmut vergaß sie sobald ich ihr von dem Popcorn abgab. Ich lehnte mich zurück und versuchte den Film zu genießen. Die Joeline Balder spielte ihre Rolle wirklich gut und sah meiner Freundin tatsächlich ein bisschen ähnlich mit ihrem kurzen, gewellten Bob-Schnitt. Aber vor lauter Gedanken an die andere Schule mit diesem Ry konnte ich nur schlecht der Handlung des 40er Jahre Films folgen. Was war ich nur in einem so komischen Ort gelandet?
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Stonegrave, Schule der Engel und Hexen
FantasíaAls Callie Newsland mit ihrer Mutter zurück in die schottische Kleinstadt Stonegrave zieht, stellt sich ihr Leben komplett auf den Kopf. Sie möchte nur schnellstmöglich Freunde finden und sich trotz des schmerzhaften Verlustes ihrer ehemaligen Heima...