Ich tastete nach dem Knauf.
Er war kälter, als ich dachte, sodass ich beinahe die Hand weggezogen hätte. Es war eine schmerzende Kälte, wie bei einer Verbrennung. Aber Joeline stand dicht hinter mir und schaute über meine Schulter. Sie hatte eine ellenbogenlange Statue von einer indischen Göttin von unten mitgenommen, die sie zur Not gegen den Einbrecher wie ein Baseballschläger schwingen würde. Sie nickte mir tapfer zu. Es gab kein Zurück mehr. Ich packte den Türknauf mit beiden Händen und drehte ihn mit vereinten Kräften. Der Mechanismus musste verrostet sein, weil er nach jedem kleinen Schlenker knirschend einrastete. Mit einem Ruck drückte ich den Knauf nach unten und brach ihn dabei fast ab. Die Tür knarzte leise und schwang behäbig nach innen auf.
Behutsam traten wir über die Schwelle.
Ich staunte nicht schlecht. Der Raum meiner Großmutter war viel größer, als es sich von außen vermuten ließ. Er glich einer Bibliothek mit lauter bis zum Rand vollgestopften Regalen, die Bücher in ledrigen Einbänden beinhalteten. Licht des Abendrotes fiel durch eine den Raum überspannende, gläserne Dachkuppel. Joeline fiel vor lauter Überraschung die Statue auf den Boden.
„Wow. Ich verstehe nicht, warum ihr diesen Raum unbewohnt lassen wollt.", pfiff sie anerkennend.
Ich hatte ebenfalls keine Ahnung, warum meine Mutter und Ms. Crow solch ein schönes Zimmer im Dunklen ließen. Langsam strich ich über die orientalische Tapete an der Wand, hinter der sich gleich mein eigenes Zimmer befand.
Joeline drang tiefer in den Raum vor, wohl um sicherzugehen, dass sich auch wirklich niemand anderes hier befand. Nach einer Weile kehrte sie zurück.
„Sieht nicht so aus, als ob hier jemand lebt. Aber eine Sache ist mir schon aufgefallen."
Gespannt sah ich sie an. „Was denn?"
Sie fuhr über die Buchrücken und strich ihre Finger gegeneinander.
„Kein Staub."
„Vielleicht putzt Ms. Crow regelmäßig."
Joelines blaue Augen leuchteten, als sie mich an der Schulter packte. „Das wäre aber noch seltsamer. Warum sollte sie dir verbieten, den Raum zu betreten, wenn sie selbst mit einem Staubwedel tagtäglich rein spaziert?"
Ich schauderte und stellte mir Ms. Crows beschäftigtes Gesicht und ihre maßgeschneiderte Uniform zusammen mit einem flauschigen Staubwedel vor. „Gruselig."
Ihre Hand wanderte zu meinem Arm. „Komm mal mit. Weiter hinten habe ich noch einige Dinge entdeckt, die könnten dich interessieren."
Ich folgte ihr durch die Regalreihen in die hinterste Ecke des Raumes. Dort stand ein schwerer Sessel vor einem Kamin, der nur zur Dekoration da sein konnte, weil das Haus keinen Schornstein besaß. Neben dieser gemütlichen Leseecke befand sich ein riesiger Tisch an der Wand und daneben alle möglichen, zuerst wegen der schieren Menge unkenntlichen Utensilien. Nach einer näheren Betrachtung handelte es sich um aufeinandergereihte Kessel aller Größen und Materialien. Aus dunklem Eisen, rotem Kupfer und sogar purem Gold. In manchen schwammen große Mörser aus denselben Material. Auch sie waren blank geputzt, ohne das geringste Staubkörnchen.
„Deine Oma hat wohl als Hobby gebraut.", meinte Joeline.
Ich ordnete einen Mörser zurück zu seinem passenden Kessel, der wohl heruntergefallen war. Vielleicht kam daher der Laut aus ihrem Zimmer, den ich vernommen hatte. Dann konnte ich das Licht aus ihrem Raum mit dem Mondlicht verwechselt haben, vor dem sich eine Wolke zog. Und das Pochen an der Tür könnte das bloße Heulen des Windes gewesen sein.
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Stonegrave, Schule der Engel und Hexen
FantasyAls Callie Newsland mit ihrer Mutter zurück in die schottische Kleinstadt Stonegrave zieht, stellt sich ihr Leben komplett auf den Kopf. Sie möchte nur schnellstmöglich Freunde finden und sich trotz des schmerzhaften Verlustes ihrer ehemaligen Heima...